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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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von innen gesehen hatte, als eine schützende Mauer. Nun erblickte er sie zum ersten Mal von außen. Sie beschützte ihn nicht mehr. Sie schloss ihn aus.
    Er schaute sich um. Die Dunkelheit schien direkt aus der Erde und dem Meer herauszukriechen, und er musste an die Schilderungen vom Dämmerreich der Toten in der Odyssee denken, wo alle Freude erstarb – dort war er nun angekommen. Er spürte die Schärfe des Frostes auf seiner Haut. Bald würde er ihm in die Glieder dringen. Zum ersten Mal dachte er an die Möglichkeit, dass er sterben könnte.
    Die Sterne erschienen, und der Schlick zwischen seinen Füßen gefror. Er stand in einem Zementblock aus Kälte. Er schaute auf, und sein Blick fiel auf den Polarstern. Er dachte an Klara Friis. Im letzten Moment, bevor das Alter sich um ihn schloss, hatte er die Hand nach der Jugend ausgestreckt. Doch für einen alten Mann war die Jugend so fern wie der Polarstern in einer Winternacht. Nun kam die Gewissheit. Es war vorbei. Sein Leben sollte enden, so unvorhergesehen wie ein Schiffsuntergang während eines plötzlich aufgekommenen Sturms.
    Er war starr vor Kälte, stand aber noch immer gerade im Schlick, als hätte er sich vorgenommen, aufrecht zu sterben. Er dachte an Knud Erik, und ein Gefühl der Wärme erfüllte ihn. Es war das Herz, das seine letzten Ressourcen mobilisierte. Dann drang die Kälte vor und begann, die Blutzirkulation zu blockieren.

    Wir wissen nicht, ob es sich so abgespielt hat. Wir wissen nicht, was Albert in seinen letzten Stunden dachte und tat. Wir waren nicht dabei. Wir haben nur die Aufzeichnungen, die er uns überließ – und das, was zum Anfang vom Ende für unsere Stadt wurde. Wir haben seine Geschichte erzählt, und jeder von uns hat ein bisschen von seiner eigenen hinzugefügt. Tausend Gedanken, Wünsche und Beobachtungen gehen in unser Bild von ihm ein. Er ist ganz er selbst und doch unser, obwohl er nicht immer so war wie wir.

    Wir sind als Gruppe auf die Halbinsel gegangen. Wir haben die Stelle aufgesucht, an der Albert starb. Wir haben unsere Stiefel in den Schlick gesteckt. Wir haben versucht, uns aus dem saugenden Boden zu befreien. Einige meinten, ja, er saß fest. Andere sagten, nein, er hätte sich herausziehen können. Oder er hätte sich aus der Falle, die ihm die Kälte und der Schlick gestellt hatten, herauswälzen können. Ein tropfnasser Mantel und durchweichte Hosen sind doch kein Preis, wenn man dadurch dem Tod entgeht. Sogar eine Lungenentzündung ist besser als ein derart jähes Ende, und er war stark.
    Wir wissen nichts, und jeder denkt sich seinen Teil. Jeder von uns sucht ein wenig von sich selbst in ihm. Einige würden ihn gern verdammen, andere finden ihn über jede Kleinlichkeit erhaben. Jeder von uns hat seine eigene Vorstellung von Albert. Wir folgten ihm, wohin er auch ging. Durch unsere Fenster und Straßenspiegel beobachteten wir ihn. Sein Wort ging von Mund zu Mund, häufig nicht immer zu seinem Vorteil; aber vielleicht waren es auch nicht immer Worte, die er selbst gesagt hatte, sondern die ihm nur zugeschrieben wurden, weil wir sie zu ihm passend oder wahrscheinlich fanden.
    Wieder und wieder haben wir sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, so wie wir auch unsere Leben in unseren bisweilen flüsternden, bisweilen lautstarken Gesprächen auf den Kopf stellen. Albert war ein Monument, das wir zusammen gemeißelt und errichtet hatten.
    Wir glaubten, dass wir alles über ihn wussten. Aber so ist es nicht. Wenn es wirklich darauf ankommt, weiß niemand etwas vom anderen.
     
    Albert wurde am folgenden Tag gefunden.
    Es hatte die ganze Nacht geschneit, und morgens tauchten ein paar Jungen an der Mole auf. In einem Boot waren sie durch das frische Eis bis zur Insel Kalkovnen gekommen; zum Teil konnten sie rudern, zum Teil hatten sie das Eis zerschlagen müssen. Wären sie bei dieser lebensgefährlichen Dummheit erwischt worden, hätte sie eine ordentliche Abreibung durch ihre Eltern oder sonst jemanden erwartet. Wenn es sich um Jungen handelt, die gegen sämtliche Regeln verstoßen, die auf dem Wasser gelten, hat jeder Einzelne von uns die Rechte und Pflichten eines Vaters.
    Doch einer Abreibung entgingen sie.

    Sie entdeckten ihn von der Spitze der schneebedeckten Feldsteine aus, auf denen sie wie die Bergziegen herumhüpften.
    «Ein Schneemann!», rief einer der Jungen, der auf den Namen Anton hörte. «Wer hat denn hier einen Schneemann gebaut?»
    Und dann rannten sie durch das steif gefrorene Schilf, das

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