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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wie ein Wald aus Stahlklingen klang, als es gegeneinanderschlug, über den steinharten Schlick und die bis auf den Grund gefrorenen Wasserpfützen und niedrigen Buchten.
    Da war er.
    Sie vergaßen ihn nie. Einen solchen Anblick erlebt man selten. Einige sagen nie.
    Albert stand aufrecht – er war zwischen der Stadt und dem Meer gestorben und in Laurids’ Stiefeln festgefroren.

III

DIE WITWEN
    I n den Monaten nach Alberts Tod hatte Klara einen Gesichtsausdruck, als wäre ihr Hirn außer Betrieb gesetzt. Sie saß in ihrem Wohnzimmer in der Snaregade und starrte mit abwesendem Blick vor sich hin. Wir sahen es, wenn wir vorübergingen und in die erleuchtete Stube schauten, in der sie vergessen hatte, die Gardinen zuzuziehen.
    Anfangs dachten wir, sie trauere.
    Es sollte einige Zeit vergehen, bis uns klar wurde, was bei Klara zu dieser tiefen Nachdenklichkeit geführt hatte, die sich leicht mit der Versteinerung des Gemüts verwechseln ließ, die Trauer so häufig hervorruft.
    Es kommt ja vor, dass das Leben plötzlich ein Meer aus Möglichkeiten bietet – so viele, dass allein der Gedanke an die Auswahl zur vollständigen Lähmung eines Menschen führt. Wurde ihr dadurch der feste Boden unter den Füßen entzogen, durch diese unendlichen Möglichkeiten, dieser Sturmflut von Freiheiten, in der ein gewöhnlicher Mensch, der es nicht gewohnt ist, selbst zu entscheiden, ertrinken konnte?
    Eines Tages bestellte sie einen Pferdewagen, um ihre Möbel abholen zu lassen. Dann rief sie Edith und Knud Erik und spazierte mit ihnen an der Hand in die Prinsegade, wo sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Portemonnaie holte, Albert Madsens leer stehendes Haus aufschloss. Die mitgebrachten Möbel ließ sie auf den Speicher bringen, Alberts Möbel blieben unangetastet. Sie saß auf seinem Sofa und schlief in seinem Bett, als wäre sie zu Gast im Leben eines Fremden. Die Haushälterin kündigte von sich aus.
    Klara saß im Erker zur Straße und starrte weiter vor sich hin.
     
    Klara Friis, eine Seemannswitwe von bescheidener Herkunft, hatte ein Herrschaftshaus, ein Maklerkontor und eine Flotte Schiffe geerbt. Mit einem Schlag war sie zu einem der größten Schiffsreeder der Stadt geworden. Mit der letzten Glut der Jugend auf den Wangen hatte sie nach dem großen Preis gegriffen und ihn gewonnen.
    Albert hatte sie nicht geheiratet, als er noch lebte. Doch im Tod war er ihr entgegengekommen.
    Wir begannen sofort darüber zu diskutieren, wie viel Geld sie wohl besaß.
    Wir begriffen nicht, dass das Interessante an Alberts Erbe nicht die Höhe der Summe war, sondern die Macht, die sie verlieh. In diesen Monaten, in denen Klara wie festgefroren im Erker hockte, wurde über unser Schicksal entschieden.
     
    Als sie mit ihren Überlegungen ans Ende gekommen war, begab sie sich als Erstes zur Witwe des Marinemalers in die Teglgade. Die lebenserfahrene Anna Egidia hatte erkannt, wie bedrückt der vaterlose Knud Erik gewesen war; sie hatte verstanden, dass es hier ein Kind gab, das einen erwachsenen Mann brauchte, an den es sich halten konnte. So war Klara Friis Albert begegnet, und nun wollte sie sich dafür revanchieren. Sie teilte der Witwe mit, dass sie sie gern bei ihrer unermüdlichen Hilfsarbeit unterstützen möchte. Und sie bot noch mehr an. Sie saß in dem Wohnzimmer mit den hohen Fenstern und den vielen Bildern an den Wänden und entwickelte ihren Plan, eines Tages in Marstal ein Kinderheim zu errichten.
    «Es soll kein Kinderheim wie andere werden», erklärte sie. «Hier sollen die Kinder sich geliebt fühlen. Nicht als Wesen, die im Weg sind oder im besten Fall am Leben bleiben dürfen, weil sie sich nützlich machen können. Nein, sie sollen erfahren, dass sie aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeit ein Recht darauf haben, auf der Erde zu sein. Diejenigen, die am wenigsten gewünscht sind, sollen hier das Gefühl haben, erwünscht zu sein.»
    Sie sprach diese Worte, die eigentlich durchdrungen von Licht und Energie sein sollten, mit einer seltsam zittrigen Stimme aus, obwohl es sich doch um Pläne handelte, die irgendwann einmal das Leben für die Stiefkinder des Daseins verbessern sollten.

    Die Witwe Rasmussen sah sie lange an.
    «Sie haben wahrscheinlich selbst einmal ein Kinderheim von innen kennengelernt, nicht wahr?», fragte sie sanft.
    Klara Friis nickte und begann zu weinen. Es war tatsächlich ihre Geschichte, das Unsagbare, das sie nicht einmal Albert Madsen hatte erzählen können, sogar in ihrem vertrautesten

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