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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Cheng Sumei reserviert.
    «Frauen», sagte er, «sehen sich selbst als Versöhner. Sie sind stets diplomatisch, nicht von Natur aus, sondern aus Not. Frauen müssen geschickte Hände haben. Die besaß Cheng Sumei auch. Aber nur, bis sie ihr Ziel gefunden hatten. Dann wurden ihre Hände hart wie Stahl.»
    Während er sprach, begriff sie instinktiv, dass er diese Geschichte noch nie einem anderen Menschen anvertraut hatte. Ihr ging es ganz genauso. Nur einem Fremden hatte sie ihr Herz öffnen können.
    Sie brauchten einander.

     
    Markussen war Cheng Sumei in Schanghai begegnet. Er hatte versucht, in den chinesischen Markt zu kommen, aber es war ihm übel ergangen. Er war zu unerfahren und zu schlecht gerüstet, um die Verluste aufzufangen, die den Neuling stets erwarten.
    Cheng Sumeis Hintergrund war ungewöhnlich, jedenfalls für dänische Ohren, allerdings nicht außergewöhnlich für die Art von Frauen, die Ausländern in einer Stadt wie Schanghai begegneten. Sie hatte früh ihre Eltern verloren und als Blumenverkäuferin auf der Straße überlebt. Und sie verkaufte nicht nur Blumen. Dennoch hatte Markussen sie nicht auf der Straße getroffen. Ein wohltätiger jüdischer Geschäftsmann aus Bagdad hatte sie adoptiert, ein gewisser Mr. Silas Hardoon, der sich der Unglücklichen der Straße annahm, um ihnen ein Heim, eine Erziehung und eine Schulausbildung zu geben, in der sie über die konfuzianische Ethik hinaus auch Englisch und Hebräisch lernten. Er war früh gestorben und hatte jedem seiner zwölf Adoptivkinder einen gewissen Betrag vererbt. Diese Summe hatte es ihr ermöglicht, einen Anteil der populären Bar «Saint Anna» zu erwerben. Hier hatte Markussen ihre Bekanntschaft gemacht. Sie war auf ihn, der sich dort als Außenseiter fühlte, zugegangen.
    Er hatte durchaus bemerkt, dass sie hübsch war, doch es war ihre Intelligenz, die ihn anzog, nicht die vollkommenen Züge ihres Gesichts.
    Sie hatten nie über etwas anderes als Geschäfte miteinander gesprochen.
    «Ich kann ja über nichts anderes reden», meinte Markussen kokett.
    Klara Friis erkannte es als eine Bemerkung, die er häufiger benutzte.
    Er war nach China gekommen, um – wie es damals hieß – dabei zu sein, wenn der Kuchen verteilt wurde. Doch andere hatten sich bereits vor ihm ihre Stücke gesichert: die Engländer, die Franzosen, die Amerikaner, sogar die Norweger standen besser da als ein einsamer Däne ohne Verbindungen.
    In Anbetracht der Umstände hatte er sich gut geschlagen. Er ließ sich am Bund in Schanghai nieder, charterte Schiffe für die Küstenschifffahrt, baute Packhäuser und gründete eine Werft. Doch der Gewinn blieb aus.
    «Füll die Packhäuser», hatte Cheng Sumei ihm geraten.
    Er hatte sie verwundert angesehen. Womit denn? Mit noch mehr Waren, die er nicht loswurde?

    Sie hatte den Kopf geschüttelt und ihn ausgelacht.
    «Auf dem Papier, lao-yeh. Füll die Warenlager, aber nur in deinen Büchern.»
    «Und wenn es entdeckt wird, dass ich die Bücher gefälscht habe?»
    «Besetz den Aufsichtsrat deiner Firma mit bedeutenden Männern aus der Spitze der Gesellschaft. Dann wird es nicht entdeckt. That is the Shanghai way, lao-yeh.»
     
    Als die Krise überstanden war, schlug sie vor, dass er die Aktivitäten der Reederei nach Port Arthur verlegte; denn hier hatte der russische Expansionsdrang in China sein Zentrum, nicht in Schanghai.
    «Aber es kommt zum Krieg.»
    Er wusste über die politische Entwicklung Bescheid. Das war einfach notwendig. Er hatte den russischen Innenminister Plehve sagen hören, dass nicht Diplomaten, sondern Bajonette Russland groß machen würden. Und Japan hatte die gleichen Pläne wie Russland. Die Frage, wer das Recht bekam, den wehrlosen Giganten China auszuplündern, würden Waffen entscheiden, und er hatte keinen Zweifel, wer gewänne.
    «Genau», sagte sie. «Aber es kommt eine Zeit nach dem Krieg, aus der du deinen Vorteil ziehen kannst.»
     
    Der Krieg kam. Port Arthur wurde belagert. Auf ihren Rat hin hielt er aus, statt sein Personal abzuziehen und sein Engagement zu beenden, wie es die meisten anderen taten. Konnte er den Verlust verkraften, wenn die Stadt fiel? Die Belohnung kam unerwartet. Als die Stadt fiel, wurden die russischen Truppen und Flüchtlinge an Bord der Schiffe seiner Reederei evakuiert, und er ließ es sich gut bezahlen. Es waren seine Schiffe, die Kriegsmaterial zu den bedrängten Russen schafften, als Wladiwostok von der japanischen Flotte blockiert wurde und man

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