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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Tür. Es verging einige Zeit, ohne dass sie zurückkam. Herman begann, auf dem Bürgersteig auf und ab zu laufen, bald in die eine, bald in die andere Richtung. Wieso schickte man sie nicht wieder weg?
    Er stieg die Treppe hinauf und öffnete die schwere Tür. Ein uniformierter Mann trat ihm in den Weg und erkundigte sich nach seinem Anliegen. Herman war verwirrt,wusste keine Antwort. Er warf einen Blick über die Schulter der Wache, konnte Klara aber in der großen Vorhalle nicht ausmachen. Der Mann bat ihn noch einmal, sein Anliegen zu nennen. Herman zuckte mit den Achseln und ging die Treppe wieder hinunter.
     
    Eine Stunde später erschien sie.
    «Ich muss mich heute Abend noch einmal mit dem Etatrat treffen», erklärte sie.

    Hermans Gesicht war ein großes Fragezeichen.
    «Ja, also Markussen. Er hat mir viele gute Ratschläge gegeben. Und bei dir möchte ich mich für die Hilfe bedanken, so wie es sich gehört.»
    Er verstand kein Wort. Ihr Ton hatte sich verändert. Sie duzte ihn. Eine Weile hatte sie ihn mit Sie angeredet, und er hatte es als Zeichen des Respekts aufgefasst. Nun war sie auf einer Audienz bei Markussen gewesen und er auf das Niveau eines Dienstboten gesunken.
    Sie griff in ihre Tasche und zog ein Portemonnaie heraus.
    «Ich bin sehr froh, dass du mich mit Markussen zusammengebracht hast», erklärte sie. «Ich möchte dir gern etwas für deine Mühe geben.»
    Sie zog einen Hundertkronenschein aus dem Geldbeutel. Sein erster Impuls war, das Geld abzulehnen. Wofür hielt sie ihn? Glaubte sie, er hätte nicht auch seinen Stolz? Dann dachte er noch einmal darüber nach. In der Tat hatte er ihr einen Dienst erwiesen, außerdem seine Zeit geopfert. Und hundert Kronen waren viel Geld. Er wollte sich mal wieder ordentlich besaufen und sich mit einer Frau vergnügen. Ein guter Grund nach dem anderen fiel ihm ein, das Geld zu nehmen, bis die Waagschale, in die er seinen kostbaren Stolz gelegt hatte, zu leicht wurde und in die Höhe ging. Er steckte den Schein in die Innentasche seiner Jacke, ohne sich zu bedanken.
    «Na, und was hast du mit Markussen vereinbart?», fragte er in einem Tonfall, der mit Absicht beiläufig klingen sollte.
    «Der Etatrat meinte, dass unser Gespräch entre nous bleiben solle.»
    Klara Friis sprach diesen Begriff langsam und sorgfältig aus, als wollte sie sichergehen, dass Herman jede Silbe davon verstand. Der Begriff entre nous war ganz sicher auch für sie neu. Dann lächelte sie.
    Es war das erste Mal, dass er sie lächeln sah.
     
    Sie war in das Gebäude gelangt, dessen Inneres ebenso abweisend wirkte wie sein Äußeres. Sie hatte die schwere Tür kaum zufallen hören, als bereits ein uniformierter Mann mit einem Gesichtsausdruck auf sie zutrat, als wollte er sie darüber informieren, dass sie den Haupteingang mit dem Kücheneingang verwechselt habe. Sie wusste sofort, dass sie unmöglich durchgelassen würde.
    Ein kleiner Mann mit einem schwarzen Seidenhut trat auf sie zu und fragte höflich, ob er ihr irgendwie behilflich sein könne.

    Es war Markussen.
    Sie war schrecklich verwirrt. Sie hatte Alberts Namen genannt, sein Erbe, und beobachtete, wie in seiner Miene die Höflichkeit der Ungeduld wich. Er war schlank, die Augenbrauen und der gepflegte Schnurrbart sahen weiß aus. Er hatte markante Gesichtszüge, eine große Nase und ein kantiges Kinn, aber seine Züge wirkten eingefallen; ein Beleg dafür, dass das Alter begonnen hatte, sich bemerkbar zu machen. Sein Blick wurde inquisitorisch. Wieder trat der Türwächter heran, als wartete er nur auf ein Zeichen, bevor er sie des Gebäudes verwies.
    Das Schlimmste war, dass sie ihren hektischen Redestrom nicht unterbrechen und gehen konnte. So hätte sie sich zumindest ein wenig von ihrer Würde bewahrt. Stattdessen verstrickte sie sich immer weiter in ihrer Geschichte, die im Grunde gar keine Geschichte war, sondern nur wahllos aneinandergereihte Erklärungen. Irgendein Anliegen hatte sie offenbar nicht vorzubringen. Sie brauchte lediglich einen Zuhörer.
    Plötzlich veränderte sich sein Blick. Sie konnte sich diesen Ausdruck, der sich nun auf seinem Gesicht spiegelte, nicht erklären, obwohl sie es später häufig versuchte, denn sie spürte, dass er der Schlüssel zu weit mehr als nur zu Markussen gewesen war. Plötzlich geweckte Neugierde? Ja, durchaus. Dunkelheit, Schmerzen, Sehnsucht, Reue? Vielleicht.
    Jedenfalls war die Ungeduld mit einem Schlag verschwunden. Er beugte sich zu ihr hinüber und starrte ihr mit

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