Wir Ertrunkenen
den Händen der Familie Boye geblieben. Im Jahr nach Henckels Konkurs gründeten sie eine neue Stahlschiffswerft etwas weiter nördlich am Hafen. Jedes Mal, wenn wir
hörten, wie die Niethämmer ihre glühenden Nägel in einen dröhnenden Stahlrumpf rammten, dachten wir das Gleiche: «Noch können wir es.» Es war eine Familie aus unserer eigenen Stadt, die die Werft begründet hatte. Während sich in diesen Jahren alles andere als flüchtig und zum Niedergang verurteilt erwies, blieb das, was wir selbst geschaffen hatten, genauso stehen wie die Mole, die den Hafen schützte und es bis in alle Ewigkeit tun würde.
Poul Victor Boye indes blieb nicht stehen. Er war groß und stattlich, mit einem wogenden Vollbart bis über die Brust, ein Schiffszimmermann und ausgebildeter Schiffsingenieur, der die Werft gegründet hatte und leitete; er bewies ebenso viel Tüchtigkeit im Büro wie an der Helling, wo er jederzeit bereit war, mit anzufassen, wenn die Werft mit den Aufträgen nicht nachkam. Die Grippe hauchte ihn mit ihrem kranken Atem an, und sein Licht verlosch.
Einen Monat später hatten seine beiden Schwestern, Emma und Johanne, ebenfalls von ihren Ehemännern Abschied nehmen müssen. Solide, grundvernünftige Männer, die an der Spitze der Reederei gestanden und während des Krieges die heikle Balance zwischen Gewinn und Verlust gemeistert hatten. Sie verloren Männer und Schiffe, jedoch kein Geld. Sie glaubten, dass jetzt die Zeit für den großen Wechsel vom Segel- auf das Dampfschiff gekommen sei.
Die Grippe war anderer Meinung.
Dreimal folgte die halbe Stadt einem Sarg den Ommelsvej hinaus. Vorn liefen Mädchen, die das Pflaster mit Blumen bestreuten, um so den Weg ins Paradies vorzubereiten. Wer statt auf See zu Hause starb, verdiente doch, dass ein wenig Aufwand getrieben wurde. Es war ein alter Brauch, an dem wir festhielten. Dann folgte der von einem schwarzen Pferd gezogene Leichenwagen.
Mit wenigen Wochen Zwischenraum kamen sie unter die Erde. Einer nach dem anderen.
Zunächst ahnten wir nichts. Doch beim dritten Mal wussten wir es. Wir hatten mehr als nur Männer begraben.
«Jetzt sind nur noch die Matrosen übrig», sagte der Steinmetz Petersen und kratzte sich mit seiner Schiebermütze, die er nur selten vom Kopf nahm, im Nacken. «Die Kapitäne und Steuermänner haben wir beerdigt.»
Wir nannten Steinmetz Petersen auch den Totensammler, weil er jeden Verstorbenen als Holzfigur schnitzte. Unter dem Mützenschirm befanden sich scharfe Augen, und wir wussten, dass er Maß bei uns nahm, nicht wie der Totengräber, aber beinahe so. Kaum war jemand beerdigt, schon tauchte eine kleine Figur im Regal der Werkstatt des Totensammlers auf. Die Werkstatt lag dem Friedhof gegenüber. Das war nicht nur praktisch für diejenigen, die einen Grabstein bestellen wollten, sondern auch für ihn, denn so brauchte er die blank geschliffenen Steine mit Kreuzen, Engeln und Ankern nicht so weit zu schleppen. Die Werkstatt des Totensammlers stellte einen Friedhof im Puppenstubenformat dar, nur mit dem Unterschied, dass sich die Toten hier betrachten ließen. Seine Figuren den Angehörigen schenken wollte der Totensammler nicht, und wenn er gefragt wurde, warum er nicht die Lebenden aus Holz schnitzte, antwortete er stets, dass er niemanden verärgern wolle. Seine kleinen Holzfiguren waren schon sehr ähnlich, allerdings auf eine etwas grobe Art. Eine große Nase wurde größer, ein gekrümmter Rücken noch ein wenig gebückter, und O-Beine wirkten, als hätte ihr Besitzer eine unsichtbare Tonne zwischen die Beine geklemmt. Die Toten besaßen ja nahezu alle Spitznamen, denen sie auch ähnlich sahen, wenn der Totensammler sie nach ihrem Fortgang verewigte. Er lächelte entschuldigend und meinte, das reine Unvermögen sei schuld an den möglicherweise etwas übertriebenen Extremitäten seiner Figuren, kein böser Wille.
«Habt Nachsicht mit mir», bat er, «ich kann es nicht besser.»
Der Totensammler hatte viel zu tun während der Grippeepidemie. Tagsüber schleppte und bearbeitete er seine Steine. Und abends saß er mit der Pfeife im Mund da und schnitzte. Immer mehr Figuren standen auf seinem Regal.
«Wer soll denn jetzt das Kommando übernehmen?», fragte er Kapitän Ludvigsen, den man den Kommandeur nannte, als der einen Grabstein für seine Frau bestellte.
Der Totensammler beantwortete seine Frage selbst.
«Es werden die Frauen machen. Warten Sie nur ab. Oder schauen Sie sich Klara Friis an. Denken Sie an
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