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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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soeben aufgelegt worden. Wenn der Tag vorbei ist, wird die letzte verkauft sein. Es geht darum, sofort zuzugreifen, nicht wahr, Seemann?»
    Er blinzelte Herman zu, den er noch immer für einen Mitverschworenen hielt.
    Klaras Gesichtsausdruck zeigte Verblüffung, als könnte sie nicht glauben, was sie da gerade hörte.
    «Die Kalundborg Skibsværft! Ja aber, ist das nicht Ingenieur Henckels Betrieb? Der sitzt doch im Zuchthaus.»
    Sie sah Herman hilfesuchend an. Er nickte.
    «Tja», sagte er, «das hat seine Richtigkeit.»
    Sie wandten sich beide dem Rollenden Fußweg zu. Doch der selbstsichere Feilbieter zukünftigen Reichtums war bereits in der schreienden Menge verschwunden.
    Klara Friis hatte ihre Lektion erhalten.
     
    Über die Brücke an der Börse gingen sie zur Schlossinsel. Auf dem Kai pulsierte das Leben. Mit frisch duftendem Holz aus dem Bottnischen Meerbusen beladene bark- oder brigggetakelte Schiffe aus Finnland lagen hier vertäut und wurden gerade gelöscht. Er sah verstohlen zu ihr hinüber. Die Ängstlichkeit in ihrer Miene war zurückgekehrt. Er wollte
ihr eigentlich nur die Augen öffnen, nun hatte er ihr jedoch den Mut genommen; das war keineswegs seine Absicht gewesen, obwohl er sich noch immer fragte, was sie mit ihrem Wagemut letztlich beabsichtigte. Was wollte sie wirklich?
    Sie überquerten den Platz an der Ecke Holbergsgade und Niels Juelsgade. Er sah hinauf zur Bronzestatue des Seehelden, der mit ausgestrecktem Arm dastand, als dirigierte er den Verkehr.
    «Das ist Niels Juel», sagte er.
    «Genauso wie zu Hause?»
    Sie dachte offenbar an die Niels Juelsgade zu Hause. Marstal war ihr Maßstab für alles. Vielleicht glaubte sie, die Statue habe ihren Namen nach einer Straße in ihrem kleinen Flecken erhalten. In Marstal gab es keine Statuen. Es gab lediglich den Gedenkstein, den Kapitän Madsen für die Einigkeit gesetzt hatte. Nun konnte sie vergleichen und ein Gespür für den Mangel an Format bei ihrem Wohltäter bekommen. Hier war die wirkliche Welt. Hier wuchtete man keinen alten Stein aus dem Meer und stellte ihn mit einem in den Granit geschlagenen Spruch auf. Hier dachte man groß und schuf etwas Großes.
    Herman hatte plötzlich einen Einfall. Er deutete auf ein fremdartig aussehendes Gebäude an der Ecke, dessen hohe, schmale Fenster mit asiatisch anmutenden Spitzbogen bekränzt waren. Das Dach lag darauf wie ein schwerer Deckel, der auf die Straße zu rutschen drohte. Eine Treppe führte zu einer massiven Holztür, die in die meterdicke Mauer eingefügt war. Das Haus sah aus, als würde es der übrigen Stadt den Rücken kehren.
    «Fernöstliche Gesellschaft» stand auf einer Messingplatte neben der Tür.
    «Dort wohnt ein Mann, der Ihnen gute Ratschläge erteilen kann.»
    Sie sah ihn fragend an. Dann drehte sie den Kopf und betrachtete das sandfarbene Gebäude mit skeptischer Miene.
    «Wer ist er?», wollte sie wissen.
    «Er ist ein ganz gewöhnlicher Mann und heißt Markussen. Früher war er einmal Matrose. Jetzt verkehrt er beim König. Er behauptet, er bestimme über den König. Er kann Ihnen helfen.»
    Sie überquerten den Platz in Richtung des Eckhauses. Vor dem Eingang blieben sie stehen. Ihr Blick wanderte die Fassade hinauf.

    «Es ist ein großes Haus.»
    «Seine Häuser in Wladiwostok und Bangkok sind ebenso groß».
    «Soll ich wirklich hineingehen?», fragte sie.
    Er nickte ermunternd, obwohl er seinen Einfall bereits bereute.
    Etwas anderes war es ja nicht. Er hatte ein Gefühl von Edelmut verspürt, als sie die Börse verließen. Dann hatte er bemerkt, wie ihr Gesichtsausdruck immer mutloser wurde, und sich verpflichtet gefühlt, irgendetwas zu unternehmen, damit ihre Stimmung sich wieder besserte.
    Edelmut war ein neues und unbekanntes Gefühl für ihn. Es gefiel ihm eigentlich gut, und er hatte Lust, noch eine gewisse Zeit im Licht der Uneigennützigkeit zu baden. Doch dieser Vorschlag war einfach töricht. War sie zuvor enttäuscht worden, würde ihre Enttäuschung durch die Zurückweisung, die sie jetzt erwartete, nur noch größer werden. Innerlich fluchte er. Zum Teufel aber auch! Er hätte sie niemals auf diese mysteriöse Mission nach Kopenhagen begleiten dürfen, aber er war einen Moment lang schwach genug gewesen, um der Versuchung nachzugegeben, in den Augen eines anderen Menschen bedeutungsvoll zu erscheinen.
    «Ich warte hier auf Sie», sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
    Es wird nicht lange dauern, dachte er.
    Sie verschwand durch die schwere

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