Wir Ertrunkenen
einer Intensität in die Augen, die sie erschreckte. Sie verstummte.
Was habe ich gesagt?, dachte sie. Wieso sieht er mich so an?
Er nahm ihre Hand.
«Kommen Sie», sagte er nur.
Sie nahmen den Fahrstuhl zu seinem Büro im dritten Stock. Es war der erste Fahrstuhl, in dem sie stand. Als der Boden unter ihren Füßen bebte, zitterte ihre Hand auch in seiner.
Er gab seinem Sekretär Bescheid, eine Sitzung, zu der er gerade auf dem Weg gewesen war, telefonisch abzusagen. Noch immer hielt er sie an der Hand. Als würde er fürchten, dass sie ganz einfach verschwände, wenn er sie auch nur einen Moment losließe.
Mit einer Handbewegung lud er sie in sein Büro ein.
«Ich will nicht gestört werden», wies er den Sekretär an. Er zog ihr einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber auf die andere Seite eines
großen Schreibtisches aus dunklem Holz. Durch das Fenster konnte sie nach unten auf die Statue von Niels Juel schauen.
«Der Zufall ist etwas Merkwürdiges», sagte er und strich sich über den weißen Schnurrbart. «Sie suchten mich aus Gründen auf, die mir vollkommen unklar erschienen, und ich war drauf und dran, Sie wegzuschicken. Aber in Wahrheit haben wir beide sehr viel mehr gemein, als Sie sich vorstellen können.»
«Irgendetwas habe ich gesagt», murmelte sie und blickte zu Boden.
«Ja, es war durchaus etwas, das Sie gesagt haben. Aber möglicherweise sind Sie sich gar nicht im Klaren darüber, was es war?»
Sie schüttelte den Kopf. Wieder spürte sie ihre Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit.
«Ich habe verstanden, dass Sie Papiere besitzen, die Sie mir gern zeigen wollen. Lassen Sie uns das zuerst hinter uns bringen.»
Er streckte seine Hand aus. Sie griff gehorsam in ihre geräumige Wachstuchtasche und reichte ihm das Konvolut, in dem sich das Testament zusammen mit den dazugehörigen Kaufverträgen und Wertpapieren befand.
Ein Weile saß er über den Papieren. Hin und wieder schaute er auf und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie sagte nichts. Schließlich schob er die Papiere auf dem Schreibtisch zur Seite.
«So, wie ich dachte», sagte er. «Die Reederei ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Das eigentliche Vermögen ist in Plantagen in Südostasien und Fabriken in Schanghai investiert. Sie sind reich, Frau Friis, nicht ganz so reich wie ich, aber doch beachtlich reich. Ihre Besitztümer in Asien sind praktisch eine Art Zwillingsunternehmen meiner eigenen. Das ist gar nicht so seltsam, wie es sich vielleicht anhören mag. Es handelt sich nämlich um dieselbe Person, die beide Vermögen erwirtschaftet hat.»
Sie starrte ihn verblüfft an.
«Sie haben doch selbst ihren Namen genannt. Ich spreche von Cheng Sumei. Soweit ich verstanden habe, war sie die Geliebte dieses Albert Madsens – und einst auch meine. Sie war keine Frau, die ihre Männer mit leeren Händen zurückließ.»
Er faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch und hing einen Moment seinen Gedanken nach. Sein Blick verdunkelte sich.
«Ich habe viele Jahre nichts über ihr Schicksal gewusst», sagte er.
Dann riss er sich los und sah sie mit neuer Energie an.
«Jetzt möchte ich aber von Ihren Plänen erfahren.»
Sie legte sie ihm dar. Da sie sie nie zuvor jemandem erzählt hatte, war sie unsicher, wie sie in den Ohren anderer klangen. Einen Moment durchbrach sie die Einsamkeit, in der sie so viele Monate gelebt hatte.
Als ihr Redestrom schließlich versiegte, saß er lange still da.
«Haben Sie je von dem persischen König Xerxes gehört?», fragte er. «Es war Xerxes, der die Idee hatte, das Meer zu bestrafen, weil vor einer entscheidenden Schlacht gegen die Griechen ein unerwarteter Sturm aufkam und das Meer seine Flotte in Wracks verwandelt hatte. Die Methode, die er wählte, war ein wenig ungewöhnlich. Er ließ das Meer mit Eisenketten auspeitschen. Frau Friis, Sie sind ein moderner Nachkomme des Xerxes.»
Er sah sie an, wie um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Sie reagierte nicht. Seine Worte hatten keinen Eindruck auf sie gemacht.
«Aber Sie verstehen hoffentlich, dass Ihre Pläne vernichtende Konsequenzen für Ihre kleine Stadt haben werden?»
«Es verhält sich genau umgekehrt», antwortete sie, indem sie all ihren Mut aufbot. «Ich will die Stadt retten.»
Noch am selben Abend aß sie mit Markussen in einer Suite des Hotel d’Angleterre, die zu seiner ständigen Verfügung stand. Er benutzte sie für Geschäftsessen und wichtige Treffen. An diesem Abend war sie für die Geschichte von
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