Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
neutral aussehende Schiffe benötigte, die beladen und umgeladen werden konnten, bis ihre Fracht endlich die russischen Befestigungen bei Nikolajewsk an der Mündung des Amurflusses erreichten.
    «Hast du die Lektion jetzt begriffen?», fragte sie, indem sie die Einsicht, die sie ihm vermitteln wollte, wie immer als spöttische Frage formulierte.
    Wieder hatte sie ihn auf ein Fragezeichen reduziert.

    «Hör auf dein kleines sampan girlie. Es gelang dir in Port Arthur aus genau dem gleichen Grund, aus dem es dir in Schanghai misslungen ist, lao-yeh.
    Es misslang dir in Schanghai, weil die Großmächte den Kuchen bereits unter sich aufgeteilt hatten. Dort war kein Platz für einen kleinen Dänen. Ein englischer, französischer oder amerikanischer Geschäftsmann kann seine Forderungen immer mit Kanonenbooten unterfüttern. Ein Däne kann das nicht, und daher gibt es Orte auf der Welt, an denen gerade er willkommen ist, weil niemand ihn verdächtigt, dass im Kielwasser seiner Handelsschiffe Kriegsschiffe folgen. Als Däne verfügst du über nichts anderes als deine geschickten Hände. Die hast du zu gebrauchen, denn es gibt viele Orte auf der Welt, an denen der Gast am liebsten gesehen ist, der seine Hände ausstreckt, ohne dass sich darin Waffen befinden. Ein Mann aus einem kleinen und schwachen Land ist so gut wie vaterlandslos. Wedle nur mal mit deiner Flagge. Ein weißes Kreuz auf rotem Untergrund. Sie werden darin nicht das Symbol der christlichen Kreuzfahrer sehen, sondern lediglich einen weißen Lappen. Hüll dich in den weißen Umhang der Unschuld, lao-yeh.»
    Er war nicht beleidigt, er war kein Patriot. Sein Vaterland war seine Buchführung, wenn auch eine gefälschte, und er erkannte die Klugheit ihres Rats.
    Er nutzte seine dänische Staatsbürgerschaft, um damit seine Ungefährlichkeit zu signalisieren, bevor er zuschlug. Er bekam die geschickten Hände einer Frau.
     
    «Wieso habt ihr euch getrennt?», wollte Klara wissen.
    Ihre Vertrautheit hatte dazu geführt, dass sie sich duzten, ohne groß darüber nachzudenken.
    «Eines Tages verrate ich es dir. Aber nicht jetzt. Ich habe dir die Geschichte erzählt, weil ich möchte, dass du etwas daraus lernst, nicht über mich, sondern darüber, wie eine Frau Geschäfte macht. Ich habe drei Kinder, aber nur meine Tochter kommt nach mir. Meine beiden Söhne sind vollkommene Versager. Würde ich ihnen das Geschäft überlassen, würde es den augenblicklichen Ruin bedeuten. Meine Tochter verfügt über das Talent – doch ihr Geschlecht steht ihr im Weg. Also muss ich einen Strohmann einsetzen, obwohl ich sie gleichzeitig zur eigentlichen
Leiterin des gesamten Unternehmens ernenne. Sie wird nie Anerkennung für ihre Arbeit finden. Das wird ihre Tragödie sein. Sie wird durch Betrug agieren, aber das wiederum wird ihre Stärke sein. Du musst das Gleiche tun. Von nun an bist du eine Betrügerin.»

    Klara Friis bekam einen unerwarteten Verbündeten.
    Es war der Tod.
    Die Spanische Grippe brach in Marstal aus und forderte wie überall auf der Welt auch hier ihre Opfer. Die Grippe war nicht wie das Meer, das nur die Männer nahm. Die Spanische Grippe nahm, wer auch nur in ihre Nähe kam. Sie ließ ihre Opfer gnädig im Bett sterben, und es gab ein Grab, das man besuchen konnte.
    Pastor Abildgaard machte seine Runden, sprach mit den Hinterbliebenen und führte die Beisetzungszeremonien durch. Die Grippe fürchtete er längst nicht so wie den Krieg. Der Friedhof bekam neue Grabstätten, die jeden Sonntagnachmittag begossen wurden. Die Trauernden sprachen leise mit den Toten. Hin und wieder war ein Schluchzen zu hören, doch wenn sie aufschauten und ihr Blick auf den Nachbarn an der Grabstelle gegenüber fiel, begannen sie sofort eine eifrige Unterhaltung über die jüngsten Neuigkeiten. Die Kinder vergaßen sich und liefen lärmend über die frisch geharkten Wege, bis jemand ihnen bedeutete, leise zu sein.
    Es war schlimm für die Hinterbliebenen. Und doch war es das Leben, wie es nun einmal ist. Wir hatten die Köpfe zu senken und es zu akzeptieren. Niemand empörte sich oder schimpfte, weder auf die höheren noch auf die irdischen Mächte.
    «Es geht. Es muss ja», antworteten wir, wenn wir uns begegneten und nachfragten.
    Die Spanische Grippe unterschied nicht zwischen oben und unten. Dennoch schien es, als hätte sie ein besonderes Auge auf die Nachkommen von Bauern-Sofus geworfen. Er selbst hatte schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet, doch die Reederei war in

Weitere Kostenlose Bücher