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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Möwenbäcker».
    Anton wurde als der Schrecken Marstals bezeichnet. Er hatte seinen Spitznamen erworben, als er mit einem Schuss aus einem Luftgewehr die Porzellanisolation an der Spitze einer Straßenlaterne zerschoss, woraufhin die Hälfte der Stadt im Dunkeln lag. Das Gewehr, das er sich von einem Vetter geliehen hatte, benutzte er im Übrigen dazu, für einen Hofbesitzer in Midtmarken Spatzen zu schießen, der ihm vier Öre für jeden Vogel gab. Die Vögel schmiss der Hofbesitzer auf den Mist, wo Anton sie wieder einsammelte und ihm dieselben Spatzen noch einmal verkaufte. Er konnte denselben Vogel bis zu viermal an den gutgläubigen Bauern verkaufen, der inzwischen eine ziemlich übertriebene Vorstellung von der Größe der Spatzenpopulation hatte, die seine Äcker heimsuchte.
    Anton stammte aus dem Møllevej, der im nördlichen Teil der Stadt lag, während Knud Erik, der in der Prinsegade wohnte, zum südlichen gehörte. Zwischen den beiden Stadtteilen verlief eine Grenze, die in den Augen der Jungen nicht weniger ernst genommen wurde als die Fronten des gerade überstandenen Weltkriegs. Es gab zwei Banden, die einen gnadenlosen Krieg gegeneinander führten, die Südbande und die Nordbande. Und Knud Erik und Anton gehörten wie selbstverständlich jeder zu ihrem Teil der Stadt. Knud Erik, der auch auf dem Schulhof und dem Heimweg von der Schule für sich blieb, gehörte ganz sicher zu keiner Bande, Anton jedoch war ein geachtetes Mitglied der Nordbande.
    An einem Frühlingstag, als der Wind draußen vor der Mole mit den Wellenkämmen spielte, passte Anton Knud Erik auf dem Nachhauseweg von der Schule ab. Knud Erik wusste um Antons Ruf und zog aus Gründen des Selbstschutzes die Schultern hoch. Er war kein Raufbold und wusste daher nicht, dass eine solche Haltung genau die Prügelei provozierte, die er am liebsten vermeiden wollte.
    «Ich habe Kapitän Madsen gefunden», prahlte Anton.
    Knud Erik machte sich noch kleiner. Er wünschte sich plötzlich, dass der andere es dabei belassen würde, ihn zu verprügeln.
    «Ich will dir bloß sagen, dass ich ihn ganz unglaublich finde», sagte
der ältere Junge. «Mit Stiefeln an den Füßen zu sterben. Aufrecht. So würde ich auch gern sterben.»
    Knud Erik wusste nicht, was er sagen sollte, doch die Anspannung fiel von ihm ab.
    «Du kanntest ihn doch. Er war doch so etwas wie ein Großvater für dich, oder?»
    Es lag kein Spott in Antons Tonfall.
    «Schon», antwortete Knud Erik. Noch immer lag ein Zögern in seiner Stimme.
    «Wie sah er aus?», fragte er kurz darauf.
    Er wollte wissen, ob Albert in seinen letzten Stunden gelitten hatte. Konnte man seinem Gesicht etwas ansehen? Aber die Frage war möglicherweise zu rührselig.
    «Er hatte Raureif im Bart und im Haar, ja, am ganzen Kopf. Das sah ziemlich toll aus», meinte Anton.
    Knud Erik nahm all seinen Mut zusammen.
    «Und wie sah er sonst aus?»
    «Was meinst du? Er sah eigentlich ziemlich normal aus. Er war doch tot.»
    Ohne ein weiteres Wort liefen sie eine Weile nebeneinander her. Über ihren Köpfen zogen sich die Wolken zusammen und nahmen eine dunklere Färbung an. Sie gingen durch die Markgade und überquerten den Marktplatz. Knud Erik war gleich zu Hause, und Anton würde ihn vielleicht nie wieder ansprechen. Aber er wollte die Freundschaft des großen Jungen gewinnen, und er bekam einen abwesenden Blick, als er sein Gehirn zermarterte, was er Interessantes sagen konnte.
    Dann hatte er eine gute Idee.
    «Hast du jemals einen Schrumpfkopf gesehen?», fragte er.
     
    Einen erwachsenen Mann gab es in Knud Eriks Leben nicht mehr. Doch nun hatte er Anton, der über seine eigene Lebenserfahrung verfügte, die er in unzähligen Konfrontationen mit den Erwachsenen erworben hatte. Er kannte ihre Welt, allerdings auf die gleiche Art, wie der Spion eines aufständischen Heeres das Lager des Feindes kennt: Je mehr man darüber weiß, desto besser lässt es sich einnehmen.
    Eines Tages nach der Schule ging er mit Knud Erik nach Hause in die
Prinsegade. In seinen Augen hatte er während des ganzen Besuchs beinahe den Status eines Beobachters. Er kam hierher, um seinen Gegner besser kennenzulernen.
    Sie wurden von dem jungen Mädchen empfangen, das sich der im Haus anfallenden Arbeit annahm. Sie trug eine gestärkte Schürze und hatte das Haar aufgesteckt. Anton musterte sie mit Kennermiene von oben bis unten, als überlegte er, sie an diesem Abend einzuladen. Sie schaute nur auf seine Füße und beschied ihm in barschem

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