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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Mutter.
    Als er vier Lenze zählte, nahm ihn sein Vater, der gerade nach mehreren Jahren auf See nach Hause zurückgekehrt war, auf den Schoß. Erst hatte er Anton ein paar Ohrfeigen verpasst, da er wie gewöhnlich der Bitte der Mutter nachgekommen war, die Kinder für die Streiche zu bestrafen, die sie während seiner jahrelangen Abwesenheit ausgeheckt hatten. Er hatte keinerlei Kraft in die Schläge gelegt und war daher auch nicht der Ansicht, dass irgendetwas Ernstes zwischen ihm und Anton stehen würde. Freundlich fragte er Anton nach seinem Namen. Es ging wohl nur darum, dass Anton seinen Namen sagen sollte, als Zeichen, dass zwischen ihnen wieder Harmonie herrschte; obschon man es natürlich auch so verstehen konnte, dass Regnar sichergehen wollte, den Richtigen geohrfeigt zu haben. In beiden Fällen hätte er seine Vaterpflichten erfüllt und könnte das Heim im Møllevej verlassen, um in Webers Café zu gehen.
    «Anton Hansen Hay», sagte Anton.
    «Was, zum Teufel, sagst du da, Bursche?», brüllte der Vater, der urplötzlich einen zornesroten Kopf bekam.
    Er begann Anton zu schütteln, der nun auf dem Knie hin- und herschaukelte, auf das er noch einen Moment zuvor als Beweis der Versöhnung zwischen Vater und Sohn gesetzt worden war. Dann stieß der Vater ihn auf den gewachsten Holzboden, über den der verwirrte Anton eine erhebliche Strecke rutschte, bevor er sich unter dem Esstisch in dem Wirrwarr der Stuhlbeine verfing.
    «Glaubt nur nicht, dass ich lüge», sagte Anton, als er die Geschichte erzählte. «Der Idiot wusste nicht mal, wie sein eigenes Kind heißt.»
    Anton wurde getauft, als sein Vater sich auf See befand, und Regnar hatte sich nie die Mühe gemacht, einen Blick auf den Taufschein zu werfen oder nach der Taufe zu fragen. Er hatte nicht erwartet, dass seine Frau dem Jungen ihren Mädchennamen als Mittelnamen geben würde,
denn er hatte nie damit hinter dem Berg gehalten, dass er ihre Familie nicht ausstehen konnte. Doch Antons dicke, umgängliche Mutter wollte sich mit niemandem überwerfen. Sie war ihrem Mann gegenüber ebenso nachsichtig wie ihrer eigenen Familie. Sie wollte gern alle zufriedenstellen, und so hatte sich ihre Familie in Form eines Zwischennamens zwischen Anton und seinen Vater schieben können. Antons voller Name entsprach im Grunde einer Familienfehde.
    Anton war es egal. Er hielt sich ohnehin an niemanden. Seinen Vater bezeichnete er als Narren. Die meisten von uns nennen die Väter «den Alten», und darin liegt durchaus ein gewisser Respekt. Auf den Schiffen werden so die Kapitäne von der Mannschaft genannt. Doch Anton hatte keinen Respekt. «Der Ausländer» war sein Spitzname für den Vater.
    Und doch vertrugen sie sich einigermaßen, denn der Ausländer war die wesentliche Quelle von Antons Kenntnissen über die Welt; nicht weil Regnar dem Sohn Geschichten über seine Bordellbesuche in der Fremde anvertraute, sondern weil er ihn als Zuhörer dabeisitzen ließ, wenn sich die heimgekehrten Seeleute in Webers Café trafen und prahlten.
    Anton wollte im Grunde so sein wie sein Vater, obwohl es niemanden gab, der ihn jemals ein freundliches Wort über Regnar hatte sagen hören. So war es seit dem Tag gewesen, als der Vater ihn unter den Tisch warf, nur weil er den falschen Zwischennamen trug.
    Das war der Tag, an dem er begann, sein eigenes Leben zu leben.

    In Boyes Reederei gab es nur noch die Witwen. Sie waren wie gelähmt, nicht nur vor Trauer über den plötzlichen Verlust ihrer Ehemänner, sondern auch aufgrund der ungewohnt titanischen Aufgaben, die auf sie zukamen. Marstals Zukunft lag in ihren Händen. Nur sie hatten genügend Kapital, um vom Segelschiff aufs Dampfschiff umzurüsten, und genau dies erforderte die Zeit. Die Ära der Segelschiffe war vorbei. Ihre Ehemänner hatten es geahnt, und nun sollten sie die Visionen der allzu früh Dahingerafften Wirklichkeit werden lassen. Fünf Dampfer gehörten der Reederei bereits. Die Enigheden, die Energi, die Fremtiden, die Maalet und die Dynamik – Namen, die Programm waren.

    Im Prinzip wussten die Witwen genau, was zu tun war. In die Praxis umsetzen konnten sie es indes nicht. Jeden Tag versammelten sie sich in der Reederei und ließen sich Kaffee servieren, zu dem ihnen die täglichen Unterlagen präsentiert wurden. Und während sie die mitgebrachten selbsgebackenen Vanillekringel mümmelten, brüteten sie über Frachtangeboten, den Kosten für Instandhaltung und Mannschaften und zerbrachen sich den Kopf über

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