Wir Ertrunkenen
er schwimmen konnte.
Vilhjelm war drei oder vier Jahre alt gewesen, und sein Vater hatte ihn mit dieser schleppenden Stimme ermahnt, die immer klang, als spräche er ins Leere, als müsste er sich jedes Wort überlegen, um sicher zu sein, was er sagte.
«Setz dich dorthin», hatte er gesagt. «Da bleibst du still sitzen, und wenn du was willst, dann stupst du mich an.»
Er hatte Vilhjelm den Rücken zugedreht und begonnen, die Planken des Schandecks zu reparieren. Vilhjelm hatte ins klare, ruhige Wasser geblickt, und er konnte noch immer den Eindruck beschreiben, den es damals auf ihn machte. Die Steinmauer des Kais war grün und mit Algen überzogen, ein Märchenland wechselnder Farben, wenn die Sonnenstrahlen auf ihren Streifzug durchs Wasser gingen, das voller Seesterne und wandernder Krebse war, oder Krabben, die sich mit ihren flimmernden Antennen nicht von der Stelle rührten.
Voller Entdeckerdrang hatte Vilhjelm sich nach vorn gelehnt und war plötzlich kopfüber in das Märchenland gefallen. So war es uns auch ergangen, jedenfalls den meisten von uns, nur hatte niemand außer Vilhjelm einen tauben Vater, der auf ihn aufzupassen hatte und den einzigen Unterschied zwischen Rettung und Untergang verkörperte.
Vilhjelm tauchte wie ein Korkpfropfen wieder auf und bekam die Reling zu fassen. Mit den Füßen fand er an einem der glitschigen Feldsteine des Kais Halt, aber er rutschte ab und hing mit schwerelosen Beinen über der dunkelgrünen Tiefe. Ein eiskalter Unterstrom hatte ihn erfasst und wollte ihn unter das Boot ziehen.
Die Holzschuhe waren ihm bereits von den Füßen geglitten und schwammen um ihn herum wie Rettungsboote um ein sinkendes Schiff.
Die nasse Kleidung, die eben noch ein so vertrauter Teil seiner selbst gewesen war, fühlte sich an wie eine fremde Hülle. Er konnte nur den Rücken seines Vaters sehen, und in diesem massigen, blau gekleideten Körperteil schien die ganze Welt sich zu vereinen und ihn abzuweisen.
Verzweifelt schrie er, doch der taube Vater hörte nichts. Er schrie noch einmal, dass es durch den leeren Hafen gellte.
«Hilfe! Vater!»
Dann konnte er nicht mehr. Seine Finger verloren den Halt, und er verschwand im Wasser. Er strampelte, biss und schlug um sich, als würde er mit einem wilden Tier kämpfen, und doch war es nur das sanfte, weiche Wasser, das ihm seine Bettdecke über den Kopf zog, als wäre es nun an der Zeit einzuschlafen – das Wasser wünschte ihm eine gute Nacht.
Und dann – dann war der große Arm des Vaters gekommen. Der Arm, dieser gewaltige Arm, der bis zum Meeresgrund reichte und, wenn es sein musste, bis hinunter in den Tod, hatte ihn wieder heraufgezogen.
«Im aller-, aller-, allerletzten Augenblick», sagte er.
Wir wussten, dass er diesmal nicht stotterte. Es war tatsächlich im aller-, aller-, allerletzten Augenblick passiert.
«Und dann hast du wohl Prügel bezogen?», fragte Anton.
So war es zu Hause bei ihm.
Aber Vilhjelm war nicht geschlagen worden, weder bei dieser noch bei anderen Gelegenheiten; und wir begriffen, warum, als wir zum ersten Mal seinen Vater sahen, der eher wirkte wie sein Großvater. Es lag nicht nur an seiner Taubheit, sondern auch an seinem grauen Haar. Vilhjelm war ein Nachzügler, und sein Verhältnis zu seinen Eltern war so, wie wir es zu unseren Großeltern hatten. Er war nett und zuvorkommend und unterhielt sich leise mit ihnen, als wäre das Problem der Familie nicht die Taubheit, sondern eher eine Überempfindlichkeit gegen Lärm. Durch einen merkwürdigen Zufall war seine Mutter ebenfalls taub.
Jeder kann sich vorstellen, dass in dieser Familie nicht allzu viel geredet wurde. Wenn die Eltern endlich einmal etwas sagten, geschah es immer in einem ernsthaften, eindringlichen Ton, als würden sie ein demütiges Gebet sprechen. Dafür berührten sie sich ständig gegenseitig. Sie fassten sich an den Händen oder strichen sich über Haare und Wangen,
und nicht nur bei Vilhjelm. Er streichelte auch seine Eltern. In Vilhjelms Familie wurde nicht geschlagen.
Daher entdeckte Vilhjelm von seinem Vater auch etwas anderes, nachdem er beinahe ertrunken war. Um was es sich handelte, wurde uns erst klar, als er uns eine sehr merkwürdige Antwort auf die Frage gab, die Anton stellte: «Was meinst du, was ist das Schlimmste am Ertrinken?»
Anton wusste erstaunlich viel über die Welt außerhalb von Marstal, persönlich war er der Ansicht, dass das Schlimmste all die Erfahrungen wären, die ihm entgehen würden, sollte
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