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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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er ertrinken. Er konnte die Namen der berühmtesten Bordellstraßen der Welt aufzählen, und bestimmt hatte er nicht in den Geografiestunden der Schule in der Vestergade vom Oluf Samson Gang in Flensburg, der Reeperbahn in Hamburg, dem Schiedamsche Dijk in Rotterdam, der Schipper Straat in Antwerpen, der Paradise Street in Liverpool, der Tiger Bay in Cardiff, dem Vieux Carré in New Orleans, der Barbary Coast in San Francisco oder der Foretop Street in Valparaiso gehört. Über so etwas wurde in Webers Café gesprochen, und mit Kennermiene, die nicht zu einem Jungen seines Alters passte, versicherte er uns, dass die französischen Mädchen die Besten und die Portugiesinnen zu aufdringlich seien, außerdem würden sie nach Knoblauch riechen. Wenn wir nachfragten, was Knoblauch sei, verdrehte er die Augen gen Himmel, als wären wir wirklich zu blöd. Er kannte die Namen einer Unmenge verschiedener Arten von Schnaps, als würde er sich darauf freuen, sie eines Tages alle einmal zu probieren. Amer Picon, Absinth und Pernod, erklärte er, das haut dich wirklich um. Was Bier betraf, wollte er sich jedoch stets an «Hof» halten, egal, wo auf der Erde er sich befand. Das von vielen so gelobte belgische Bier war doch dünne Pisse.
    «Zählt sämtliche Puffstraßen der Welt auf», sagte er, «und alle Schnapsmarken, dann rechnet sie zusammen, und ihr werdet eine Zahl herausbekommen, die der mathematische Beweis dafür ist, dass es furchtbar dumm ist zu ertrinken.»
    Knud Erik antwortete, das Schlimmste beim Ertrinken sei, dass er dann seine Mutter nie wiedersehen würde. Er sagte es wohl eher aus Pflichtgefühl, weil er dachte, er müsse so etwas sagen, aber auch, weil es diese ungestillte Sehnsucht in ihm gab.
    Vilhjelm meinte, das Schlimmste sei, dass seine Eltern traurig sein würden.

    «Das bedeutet, du lebst nicht wegen dir, sondern wegen deines Vaters und deiner Mutter», wandte Anton ein.
    Er erklärte uns, dass er etwas herausgefunden habe. War man gehorsam, artig, höflich, wohlerzogen oder pflichtbewusst, hieß das, dass man sich nur nach den anderen richtete und nicht sein eigenes Leben lebte.
    «Darum bin ich das alles nicht», sagte er, «weil ich mein eigenes Leben lebe.»
    Als Vilhjelm klatschnass am Arm seines Vaters strampelte, hatte er diesem in die Augen gesehen und in dessen Blick weder Zorn noch Erschrecken gefunden. Sondern Kummer. Welche Art Kummer es war und welche Ursache er hatte, wusste er nicht, aber er spürte sofort, dass er dafür sorgen musste, dass sein Vater nie wieder Grund zu Kummer haben sollte. Instinktiv erkannte er, wie er ihm helfen konnte: indem er so wenig wie möglich Aufmerksamkeit erregte. Am besten war es, unsichtbar zu sein, am zweitbesten, wenn er so unauffällig wie möglich durchs Leben ging. So wurde Vilhjelm zu einem wortkargen und pflichtbewussten Kind. Vielleicht stotterte er auch deswegen. Er musste sich dermaßen anstrengen, um auf sich aufmerksam zu machen, dass es ihm nie richtig gelingen wollte.
    Anton lebte sein eigenes Leben, und wenn Vilhjelm fünfundzwanzig Meter über dem Deck mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Mastknopf lag, tat er das Gleiche wie Anton. Einen Augenblick lang vergaß er, unsichtbar zu sein.
    Selbstverständlich hatte Anton auch eine Mutter und einen Vater, aber wie er selbst sagte, hätte er ebenso gut auch keine Eltern haben können. Seiner Mutter Gudrun konnte er erzählen, was er wollte. Als sie entdeckte, dass er sie mit dem Zeugnisheft belogen hatte und es immer selbst unterschrieb, weinte sie und sagte, er solle nur warten, bis der Vater nach Hause käme, dann würde es schon etwas setzen. Eigentlich war sie groß und kräftig genug, um diese Angelegenheit selbst zu regeln. Der Vater schlug ihn mit schlaffer Hand.
    Er hatte anderes zu tun, wenn er endlich nach Hause kam, als seine Kinder wegen alter, längst vergessener Vergehen zu bestrafen. Er konnte durchaus hart zuschlagen, aber dann musste es sich auch um Barzahlung handeln, wie er es ausdrückte, nicht um Abschlagzahlungen alter Schulden.

    «Ab-Schlag-Zahlung! Hast du’s kapiert?», sagte er zu Anton und ließ ein Lachen hören, das Anton dumm fand.
     
    Ungefähr zur gleichen Zeit, als Vilhjelm den Kummer in den Augen seines Vaters sah, machte Anton eine Entdeckung von ähnlich weitreichender Bedeutung. Es ging um seinen Vater Regnar, der den Nachnamen Hay trug. Anton hieß selbstverständlich auch Hay, aber er hatte den Zwischennamen Hansen, den Mädchennamen seiner

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