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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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der Schule folgen würde.
    Neben ihm saß Vilhjelm, der stotterte. Die Lehrer hatten keine Geduld mit ihm, weshalb er selbst die Geduld verlor und aufgab, bevor er die Worte ausgesprochen hatte. Knud Erik flüsterte ihm die richtigen Antworten ins Ohr oder schrieb sie ihm auf einen Zettel. Vilhjelm wurde zu seiner Bauchrednerpuppe. Das Wissen, das er den Lehrern vorenthielt, konnte er mit Vilhjelm als seinem Stellvertreter beweisen. Mit der Zeit entwickelte sich eine Freundschaft zwischen ihnen.
    Vilhjelm kam mit einem besseren Zeugnis nach Hause, Knud Erik mit einem schlechteren.
    Die Mutter sah ihn vorwurfsvoll an.
    «Was ist los mit dir in der Schule?», fragte sie in einem Ton, aus dem er Sorge, ein wenig Panik und Zorn heraushören konnte. Der Zorn siegte. Sie hatte sich verändert, und er empfand ein Gefühl der Dankbarkeit über diese Veränderung. Hätte sie noch immer so schnell zu weinen begonnen wie früher, hätte er es nicht ausgehalten – er wäre wieder zu ihrem Helfer und Tröster geworden. Nun schimpfte sie ihn aus, und er machte es wie in der Schule und verschloss sich. Sie war ein Teil des Frauenregiments, mit dem er sich abzufinden hatte, bevor er in die Freiheit entkam.
    «Du bist ein merkwürdiger Junge», sagte sie.
    Die Worte brannten in ihm. Er fühlte sich von ihr verstoßen. Einen Moment lang hätte er sich gern in ihre Arme geworfen und um Verzeihung gebeten. Ein Teil von ihm hätte sich bereitwillig mit ihr versöhnt, um wieder zu den alten Rollen zurückzufinden – er hätte ihr großer Junge sein können und sie seine arme kleine Mutter, die ihn so dringend
brauchte. Aber sie war nicht mehr länger hilflos, und ihr Zorn half ihm, sich zu widersetzen und standhaft zu bleiben.
     
    Anton verhielt sich Vilhjelm gegenüber reserviert. Mit den Schwächlingen des Schulhofs gab er sich nicht ab, und sein Interesse an Knud Erik lag vor allem an seiner Verbindung zu dem verstorbenen Albert, der in Antons Augen immer bedeutender wurde, je mehr Knud Erik ihm von dessen Abenteuern berichtete. Anton wusste von Schiffsuntergängen und verwegenen Begebenheiten in fremden Häfen. Allerdings gehörten derartige Berichte zum Alltag eines jeden Jungen, von Schrumpfköpfen hatte ihm jedoch bisher niemand erzählt. Was spielte der stotternde Vilhjelm, der kaum einen Satz zu Ende brachte, schon für eine Rolle im Vergleich zu all diesen phantastischen Geschichten?
    Nein, das Reden war wirklich nicht Vilhjelms starke Seite. Dafür hatte er es in den Armen und Beinen. An einem Wintertag turnten sie auf den Schiffen im Hafen herum, und plötzlich kletterte Vilhjelm in die Takelage. Er stieg immer weiter hinauf, bis er die Mastspitze erreicht hatte, den glänzenden Mastknopf, den er in fünfundzwanzig Metern Höhe enterte. Er legte sich mit dem Bauch darauf und breitete Arme und Beine aus, als würde er fliegen. So etwas hatten sie seit dem letzten Sommer nicht mehr gesehen, damals gastierte der Zirkus Dannebrog, und da war es jedenfalls nicht in fünfundzwanzig Metern Höhe passiert.
    Niemand von ihnen traute sich, es ihm nachzumachen. Die Mutigsten kletterten hoch bis zum Mastknopf, aber dann zögerten sie und kehrten um. Auch Anton musste die weiße Flagge hissen. Von Marstals Schrecken hätte man eigentlich erwartet, dass er verächtlich mit den Achseln zucken und erklären würde, das sei doch gar nichts. Was er nicht wagte, war ohnehin nicht wert, getan zu werden.
    Doch so war Anton nicht, er reagierte vollkommen anders.
    «Teufel auch, das war verdammt mutig», sagte er, «ich hab mich jedenfalls nicht getraut, als ich da oben war.»
    Er schlug Vilhjelm anerkennend auf die Schulter, dessen Glück nun vollkommen war. Er stand nicht mehr länger abseits.
     
    Eine Geschichte konnte Vilhjelm gut erzählen. Sie dauerte allerdings ziemlich lange, und diese Zeit hatten wir gewöhnlich nicht. Aber einmal
hörten wir ihm zu. Vilhjelm wäre nämlich beinahe gestorben, und nur ein Zufall hatte ihn gerettet.
    Es geschah an einem Sonntagmorgen, ganz früh. Er hatte seinen Vater zum Hafen begleitet, um nach dem Boot zu sehen. Sein Vater war Sandgräber und außerdem taub, und natürlich war die Taubheit auch für die ganze Spannung in der Geschichte entscheidend, sonst wäre es lediglich ein gewöhnlicher Sturz ins Wasser gewesen, den viele von uns erlebt hatten. Es gehörte einfach zur Lebenserfahrung eines ordentlichen Jungen, dass er einmal unter die Wasseroberfläche geriet und die Tiefe erforschte, noch bevor

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