Wir Ertrunkenen
über den Sinn des Daseins philosophieren, wenn wir Lust dazu hatten. Das war alles an Abwechslung während unserer Gefangenschaft.
Nach vierzehn Tagen wurden wir um fünf Uhr morgens geweckt und auf den Friedhof beordert. Hier hatten wir uns in Reih und Glied aufzustellen, insgesamt sechshundert Mann. Darunter befanden sich auch die Kadetten, die bisher in einer Reithalle untergebracht waren. Unsere Wächter gingen davon aus, dass wir der Disziplin bedurften, und wer hätte sie uns wohl besser in die Köpfe prügeln können als unsere eigenen Offiziere?
Mit den Seesäcken auf dem Rücken und dem Essnapf unterm Arm marschierten wir aus Rendsburg hinaus. Man brachte uns nach Glücksstadt, wo wir mit dem Dampfzug ankamen und wie in Rendsburg von einer tausendköpfigen Schar Neugieriger empfangen wurden. Der Pulverdreck war abgewaschen. Wir hatten saubere Kleider erhalten und sahen beinahe aus wie gewöhnliche Menschen. Doch mehr noch als unser
gefährliches Aussehen war es unsere große Zahl, die die Bewohner der kleinen Stadt beeindruckte.
Wir marschierten hinunter zum Hafen, wo ein Kornlager auf unsere Einquartierung wartete. Es gab einen unteren und einen oberen Dachboden und auf jedem dieser Böden eine separate Kammer. Hier wurden die Kadetten untergebracht. Die Mannschaft schlief in den großen offenen Dachböden aufgereiht auf dem Fußboden, einhundertfünfzig Mann in jeder Reihe. Die Wände des Lagerhauses bildeten das Kopfende, zusammengezimmerte Bretter dienten als Fußende. Wie in Rendsburg bestand unser Lager aus Stroh. Da es hier jedoch auch Tische und Bänke gab, hielten wir all dies für eine Verbesserung. Auch hatten wir einen Hofplatz zu unserer Verfügung. Allerdings befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein weiterer Kornspeicher, und die beiden Lagerhäuser waren durch Bretterzäune miteinander verbunden, so dass wir ringsum eingesperrt waren.
Auf dem Platz zwischen den beiden Gebäuden hatte man einen kleinen See angelegt, so dass wir nun ein ganzes Gelände unser Eigen nannten. Ein Bretterzaun war immer noch besser als Bajonette, und der Teich hatte eine anregendere Wirkung auf unsere Phantasie als die Grabsteine in Rendsburg; so fanden wir selbst hier etwas, womit wir uns vergnügen konnten. Wir schnitzten kleine Schiffchen, klebten Stofffetzen an die Masthölzchen und veranstalteten auf der blanken Oberfläche des Weihers Seeschlachten. Die Hälfte der Schiffe war mit dem Dannebrog beflaggt. Die andere Hälfte schien vaterlandslos zu sein, die Schiffe besaßen keine Flagge. Es waren deutsche Aufrührer. Die Ehre, ihnen eine Flagge zu geben, wollten wir ihnen nicht erweisen. Wir inszenierten Seeschlachten und bombardierten die deutsche Flotte mit Steinen. Immer waren die Dänen siegreich, und die dänische Marine erlitt nur dann Verluste, wenn ausnahmsweise ein Stein danebenging.
Zu Hunderten standen wir um den Teich und riefen jedes Mal Hurra!, wenn ein Stein sein Ziel getroffen hatte und eines der Spielzeugschiffe kenterte. Es war die Stunde der Wiedergutmachung.
Nur Laurids drehte uns den Rücken zu, voller Verachtung.
«Ja, zu so etwas taugen wir. Wenn wir doch auch gewinnen würden, wenn es tatsächlich darauf ankommt.»
Laurids verbrachte die meiste Zeit im Stroh und starrte dort aus einem der Fenster, die zur Elbe hinausgingen. Er beobachtete die Schiffe, die auf dem Weg nach Hamburg waren oder von dort kamen. Seine Augen folgten ihnen, so lange er sie erkennen konnte, sein Herz noch länger. Er sehnte sich nach dem Meer.
Nach seiner Himmelfahrt war er ein anderer geworden.
Tagsüber saßen wir in der Sonne. Man hatte uns Bänke auf den Hofplatz gestellt. Einige spielten Karten. Bei einem Matrosen aus Ærøskøbing, Hans Christian Svinding, der des Schreibens kundig war, konnte man nach Diktat Briefe in die Heimat schreiben lassen. Nie sahen wir ihn ohne ein Heft in der Hand und einen forschenden Blick. Er notierte alles. Die meisten starrten jedoch bloß in die Luft, oft schon halb im Branntweinsuff. Abends wurde gesungen und getanzt, dass sich die schweren Bodenplanken bogen. Den größten Lärm aber machten die Kadetten. Sie mischten sich nicht unter die Mannschaft, sondern blieben in ihren Kammern, wo sie hinter verschlossenen Türen saßen und mit ihrem trunkenen Gebrüll sogar die Musik übertönten. Sie waren nichts anderes als Kinder und vertrugen keinen Branntwein. Keiner von ihnen war älter als sechzehn, der jüngste zwölf, die meisten
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