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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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waren erst dreizehn oder vierzehn. Viele von uns hatten Söhne in ihrem Alter oder älter. Und doch waren diese Kadetten unsere Vorgesetzten, obwohl sie nichts konnten und nichts wussten. Wir hatten das Gefühl, als müssten wir vor Schiffsjungen oder Leichtmatrosen strammstehen.
    Noch immer wurde über Kommandant Paludans Fahnenflucht in der Stunde der Gefahr gegrübelt. Wieso war unser Kapitän vor allen anderen ins Boot gegangen? Ein Soldat aus Schleswig hatte das Gerücht in Umlauf gesetzt, der Kommandant hätte erklärt, ein deutscher Offizier sei an Bord der Christian VIII. gekommen und habe ihm befohlen, das Schiff räumen zu lassen, obwohl die Verwundeten noch nicht an Land waren. Paludan habe tapfer protestiert, doch ihm sei beschieden worden, dass der Beschuss des Schiffs wiederaufgenommen würde, wenn er der Ordre nicht Folge leiste. Allerdings hatte niemand an Bord der Christian VIII. einen Offizier gesehen oder gehört, dessen Name angeblich Preuszer gewesen sein soll. Das deutsche Aufständischenheer bestritt jegliche Kenntnis über ihn. Nach Ansicht des Soldaten hatte
Kommandant Paludan den Mann nur erfunden, um seine eigene Feigheit zu kaschieren.
    Als Lille Clausen die Geschichte hörte, öffnete er den Mund, um seinen Kommandanten zu verteidigen. Seine Ehre als Däne stand hier auf dem Spiel. Aber er wusste nicht, was er zur Verteidigung vorbringen sollte. Im Grunde genommen glaubte er die Geschichte. Uns hatte ein ehrloser Mann geführt. Auch Ejnar blieb stumm, als er die Geschichte vernahm; vor Scham traten ihm die Tränen in die Augen. Laurids begann zu fluchen, sagte im Übrigen aber auch nichts.
    Zu irgendeinem Aufruhr führte Kommandant Paludans Verrat indes nicht, eher zu noch häufigeren Besuchen beim Branntweineimer. Unser Verdruss über die Gefangenschaft wuchs, und der Ton wurde ständig rauer.
     
    Ein Ziel unserer Wut waren die Kadetten. Über ihre Bartlosigkeit waren schon viele Witze gemacht worden, aber immer nur hinter ihrem Rücken. Nun wurden die kleinen Männer ganz offen ersucht, ihre Hosen herunterzulassen, um feststellen zu können, ob sie auch untenherum so bartlos waren.
    Der Anführer der Kadetten, ein vierzehnjähriger Bursche, hörte auf den Nachnamen Wedel. Er war der erste Kadett der Christian VIII. gewesen, der in die Boote ging, und sein triumphierender Ausdruck, als er in der Schaluppe des Kapitäns einen Platz neben Paludan bekam, einem engen Freund seines Vaters, war unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Er führte die Saufgelage hinter der geschlossenen Tür an und wurde zum häufigsten Opfer unserer immer dreister werdenden Frotzeleien.
    Als Antwort auf eine besonders boshafte Andeutung über die Größe seines Geschlechtsteils gab er einem Matrosen aus Nyborg namens Jør-gen Mærke eine schallende Ohrfeige. Er musste sich auf die Zehen stellen, um sein Ziel zu erreichen, was den ganzen Vorgang einigermaßen komisch aussehen ließ. Aber die Ohrfeige saß da, wo sie hinsollte.
    Der Matrose stand im ersten Moment vor Verblüffung wie angewurzelt da, dann griff er sich langsam an seine brennende Wange, als wollte er sich überzeugen, dass man ihn tatsächlich geschlagen hatte.
    «Stillgestanden, verdammt noch mal!», brüllte der kleine Wedel.
    Der Matrose packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn zu Boden.
Seine schweren Seestiefel nahmen Kurs auf die Rippen des Jungen. Sofort sammelte sich eine Gruppe um die beiden, nicht um dem Jungen zu Hilfe zu kommen, sondern weil es nun endlich eine Gelegenheit gab, der lang zurückgehaltenen Wut freien Lauf zu lassen. Nur Wedels gellender Schrei um Hilfe rettete ihn. Zwei schleswig-holsteinische Soldaten rannten mit aufgepflanzten Bajonetten die Treppe hinauf, doch bevor sie den Jungen erreichten, hatte Laurids den angriffslustigen Haufen zerstreut. Er packte Wedel beim Kragen und hievte ihn auf die Beine, während er mit der freien Hand die unmittelbar Umstehenden auf Abstand hielt.
    Wedel schlotterte wie eine Stoffpuppe, vor Schreck versagten ihm die Beine.
    «So, und jetzt benehmen sich alle wieder ordentlich», sagte Laurids mit ruhiger Stimme.
    Er hatte zu seiner Rolle als Autorität auf Deck zurückgefunden. Der bedrohliche Haufen löste sich auf, und die Soldaten führten den Kadetten fort.
    Den ganzen Weg die Treppe hinunter hörten wir Wedel lauthals greinen.
     
    Noch am selben Abend war der kleine Kadett wieder mutig. Hinter verschlossener Tür hielten die Kadetten ein weiteres Saufgelage ab. Irgendwo in

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