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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Er war nach dem Sturz so benommen, dass er den Verlust seines Gewehrs gar nicht bemerkte. Er sah hinauf zu den Männern, aber es lag keinerlei Drohung in seinem Blick, nur Verwirrung.
    Jørgen Mærke trat einen Schritt vor.
    «Böh!», brüllte er und reckte seinen gewaltigen Bart vor, der ihn wie der Wilde Mann aussehen ließ.
    Ein Ruck durchfuhr den Soldaten. Er drehte sich um und rannte die Treppe hinunter. Sein Kamerad kam ebenfalls auf die Beine und lief ihm nach. Die Männer lachten und klatschten sich auf die Schenkel. Dann blieben ihre Blicke an dem Gewehr hängen, und sie verstummten.
    Es lag so nah vor ihnen, dass sie bloß ein paar Stufen hätten hinuntergehen müssen, um es aufzuheben.

    «Nimm mich in die Hände», schien es zu sagen, «schieße, töte, werd wieder ein Mann!»
    Sie waren in Trance, während sie der Rede des Gewehrs lauschten.
    Einer von ihnen brach die Stille.
    «Wir könnten … », sagte er und ging die Treppe eine Stufe hinunter, als wollte er das Gewehr aufheben.
    Er sah auf zu Jørgen Mærke. Er erwartete ein Nicken, eine Aufforderung, einen Befehl: «Ja, tu es!»
    Doch Mærkes Blick war leer, und der Mund hinter dem dichten Bart blieb geschlossen.
    Der Mann wurde unsicher. Die anderen traten einen Schritt zurück, als ob er nicht mehr länger zu ihnen gehörte. Dann bückte er sich und hob das Gewehr auf. Er sah niemanden an, als er die Treppe hinunterging. Er hielt das Gewehr in seinen ausgestreckten Armen, als wäre es eine Opfergabe, die mit der größten Vorsicht dargeboten werden musste. Als er den untersten Absatz erreichte, stellte er es an die weiß gekalkte Wand. Dann drehte er sich um und ging die Treppe wieder hinauf.
     
    Wir zechten gewaltig an diesem Abend und riefen unzählige Male Hurra. Die Kadetten kamen aus ihrer Kammer und schlossen sich uns an. In diesem Augenblick waren wir alle Brüder.
    Die nächsten Tage schnitzten wir noch mehr Schiffe, die wir in See stechen ließen. Wir versahen sie mit kleinen Papierfetzen in den dänischen Farben. Stolz wiegten sie sich in der Entengrütze und erinnerten uns an die Stärke des Vaterlands.
    Wir begannen auf dem Hofplatz zu exerzieren und marschierten in geschlossenen Reihen, als würden wir uns auf eine größere Schlacht vorbereiten. Mit drei erhobenen Fingern legten wir einen Eid ab, dass wir niemals weichen und uns schleichen, sondern beharren und Gefahren ertragen würden, lauter geheimnisvolle Formeln, von denen wir selbst kaum ein Wort verstanden. Aber bedrohlich klang es, und so sagten wir die Schwüre mit lauter Stimme mitten auf dem Hofplatz auf.
    Am Bretterzaun tauchte hin und wieder ein ängstliches Gesicht auf. Es waren die Bürger von Glückstadt, die uns ausspionierten. Wir führten unsere Komödie zu Ehren dieser Spione auf.
    Schon bald verbreitete sich in der kleinen Stadt das Gerücht, dass die
dänischen Gefangenen sich auf eine Eroberung der Stadt vorbereiteten. Der Kommandant ließ uns daraufhin wissen, dass es von nun an verboten sei, die Schiffe auf dem Weiher mit dem Dannebrog zu versehen. Die Bürger von Glückstadt ertrugen die Fahne des Feindes nicht länger.
    Wir nahmen es als einen Sieg.
    Endlich hatte der Deutsche gelernt, uns zu fürchten.
    Von dieser Art Sieg gab es in den kommenden Wochen noch einige, und jedes Mal feierten wir sie mit großen Mengen Branntwein.

    Unsere Gefangenschaft dauerte bereits über vier Monate, als Ende August ein Austausch mit deutschen Gefangenen beschlossen wurde. Zehn Tage marschierten wir bis Düppel, wo der Austausch stattfinden sollte. Unterwegs erlebten wir eine Reihe von Verzögerungen und Demütigungen, ertrugen jedoch alles mit erhobenem Haupt, denn wir hatten unsere Ehre zurückgewonnen, als wir die Deutschen in Glückstadt erschreckten. Wir sahen die dänischen Schiffe im Hafen von Sønderborg und wussten, nun waren wir frei. Auf dem Dampfschiff Slesvig, das uns nach Kopenhagen bringen sollte, erhielten wir weißes Brot und Butter, Branntwein und Bier, so viel wir trinken konnten. Die Nacht verbrachten wir an Deck. Das Schiff stampfte leicht, und die Maschine arbeitete schwer, mit keuchenden Atemzügen. Unruhig bebte das Deck unter unseren Rücken.
     
    Es war eine wolkenlose Nacht, und der Sternenhimmel wölbte sich über uns. Der 21. August 1849 war eine gute Nacht für Sternschnuppen. Der leuchtende Schwarm der Kometen war eine andere Art von Kanonade als die, die uns das Leid der Gefangenschaft eingetragen hatte. Von Laurids war ein tiefer

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