Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
antwortete, ja, es gehe ihm gut hier, und nein, gleichzeitig gehe es ihm nicht sonderlich gut. Er möge die Stadt. Er sei der Ansicht, dass die
Reederei ein großes und vielversprechendes Potential besitze, aber seine Handlungen würden tagtäglich sabotiert. Wieder stieg die Wut in ihm auf.
    «Ich verstehe, dass Sie lieber Klara Friis zuhören. Aber ich warne Sie. Sie will nichts Gutes für die Reederei.»
    Ellen sah ihn bestürzt an, und er wusste, dass er verloren hatte.
    «Klara Friis, das arme Kind. Wenn Sie wüssten, was sie durchgemacht hat. Und dann sprechen Sie so von ihr!»
    Das Urteil war gefallen. Er sah es ihren Gesichtern an. Er war ein schlechter Mensch. Er hatte seine Pflicht getan. Nun konnte er gehen. Oder richtiger: Seine Pflicht hatte er eben nicht getan, und das setzte ihm verdammt schwer zu. Er hatte eine Chance gesehen und durfte sie nicht ergreifen. Tatsächlich wurde hier sein moralischer Grundsatz in Frage gestellt: eine Aufgabe so gut lösen, wie es sich machen lässt. Er hatte versagt. Er hatte die Reederei, die Stadt und sich selbst enttäuscht. Sein Talent, andere zu überzeugen, hatte nichts bewirkt. Seine psychologischen Erkenntnisse hatten zu kurz gegriffen. Er, der als Einziger von allen den rechten Kurs kannte, durfte nicht am Ruder stehen und das Schiff führen – und er konnte niemand anderem als sich selbst einen Vorwurf machen. Er war nicht der Typ, der Sündenböcke brauchte, obwohl die Stadt ihm einige zu bieten schien.
    Am folgenden Tag schrieb er sein Entlassungsgesuch.
     
    Als Isaksen die Stadt verließ, nahm er die Fähre wie jeder andere Reisende.
    Er passte nicht hierher, lautete das Urteil über ihn.
    Doch nicht bei allen. Einige erkannten, dass die Weltuntergangsszenarien, die er bei seiner Antrittsrede während des Festessens im Hotel Ærø entworfen hatte, sich nun erfüllen würden. Der Einzige, der sie hätte verhindern können, war fort. Denn nicht nur Frederik Isaksen wandte uns den Rücken zu, als er an Bord der Fähre ging, sondern auch die Welt.
    Am Kai stand eine Delegation aus Kapitänen und Steuermännern. Sie alle waren an dem Abend im Hotel Ærø gewesen, als er seine große Rede hielt.
    Der Kommandant trat vor die Gruppe. Er war Isaksens treueste Stütze gewesen. Er selbst konnte sich im Traum nicht vorstellen, seinen Fuß
auf das Deck eines Dampfers zu setzen. Aber er rühmte sich, ein weitsichtiger Mann zu sein.
    Es war ein Herbsttag, und es schüttete. Isaksen hielt einen Regenschirm in der Hand. Ein starker Westwind wehte, und die Schulterstücke seines Baumwollmantels hatten bereits eine dunklere Farbe angenommen.
    «Es tut mir leid, dass es so enden musste», sagte der Kommandant.
    «Sie müssen mich nicht bedauern», erwiderte Isaksen und lächelte aufmunternd, als bräuchte der Kommandant und nicht er den Trost. «Es war mein eigener Fehler, dass es so kam, wie es gekommen ist. Ich hätte ein besserer Zuhörer sein sollen.»
    Der Kommandant war nicht sicher, ob er verstand, was Isaksen meinte. «Die verdammten Weiber», sagte er bloß.
    «Sie dürfen ihnen nichts vorwerfen», erwiderte Isaksen. «Sie befinden sich in einer für Frauen ungewohnten Situation. Sie tun bloß das, wovon sie glauben, es sei das Beste.»
    Die Fähre tutete warnend, es war Zeit zum Ablegen.
    «Wohin geht die Reise?», wollte der Kommandant wissen.
    Er hatte eine kleine Rede vorbereitet, nun aber die Worte vergessen.
    «Nach New York. Møller eröffnet ein neues Büro. Schaut rein, wenn ihr vorbeikommt. Einen Marstaler können wir immer gebrauchen.»
    Isaksen gab dem Kommandant die Hand. Dann machte er die Runde und sagte jedem Einzelnen der Männer Adieu. Von der Fähre wurde etwas gerufen. Er hob den Schirm und lüpfte den Hut. Dann verschwand er über die Laderampe.
    Nun gab es niemanden mehr, der verhindern konnte, dass wir so wurden, wie Isaksen es in seiner Rede vorausgesagt hatte: Übriggebliebene.

DER MÖWENMÖRDER
    W o hat Albert James Cook begraben?»
    Anton schmiedete große Pläne. Er war inzwischen der Anführer der Nordbande, aber er war unzufrieden. So lange irgendjemand denken konnte, hatte es zwei und nur zwei Banden gegeben, die die Stadt unter sich aufteilten. Die Nordbande und die Südbande. Und nun hatten die Jungen in der Niels Juelsgade und der Tordenskjoldsgade angefangen, ihre eigenen Banden zu gründen. Beide waren noch nicht ganz von der Südbande abgefallen, nur Kristian Stærk aus der Lærkestræde hatte diesen Schritt getan. Er besaß den

Weitere Kostenlose Bücher