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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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der hinteren Ruderbank und pulte sich Hautfetzen von der Schulter, die sich nach einem Sonnenbrand zu schälen begann. Währenddessen starrte er skeptisch aufs Wasser.
    «Es ist mein Boot», sagte er.
    Er meinte, sein Eigentum wäre Beitrag genug an dem Unternehmen.
    «Du bist doch nur wasserscheu!», riefen die anderen ihm zu.
    Das wiederum beleidigte Helmers Männlichkeit, und er schwang sich am Fockstag heraus. Als er merkte, wie kalt das Wasser war, vergaß er seine Ehrenrettung sofort. Er packte das Stag, um sich wieder in die Jolle zu ziehen, doch das unerwartete Gewicht brachte das leere Boot zum Kentern.
    Niemand bekam Panik, es versuchte auch keiner, auf die gekenterte Jolle zu klettern. Sie war zu schwer, um sie wieder aufzurichten, also schoben und schleppten die Jungen das Boot nach Birkholm, um es dort im seichten Wasser umzudrehen und zu lenzen.

    Knud Erik und Vilhjelm blieben zurück, um die Kleidungsstücke einzusammeln. Hemden, Pullover und schaukelnde Holzschuhe schwammen wie ein Algenteppich auf dem Wasser. Ein paar Sachen hängten sie zum Trocknen an die Pricken, die die Fahrrinne markierten, die anderen nahmen sie mit zum Strand. Nur Anton tauchte weiterhin nach James Cooks Kopf. Erst als sie nackt im Sand auf Birkholm lagen, um sich aufzuwärmen, sahen sie ihn auf den Strand zukommen. Er schwamm auf dem Rücken und hielt etwas im Arm. Es sah aus, als würde er einen Ertrunkenen retten.
    «Er hat den Schatz gefunden! Er hat den Schatz gefunden!», schrie Helmer aufgeregt.
    Knud Erik und Vilhjelm sahen sich an. Sollte es wirklich der Kopf von James Cook sein?
    Anton stolperte den Strand herauf. Sein Kopf leuchtete hellblau, und er klapperte so heftig mit den Zähnen, dass er die ersten paar Minuten außerstande war, irgendetwas zu sagen. Er saß in der Hocke, holte tief Luft und röchelte, als hätte er eine Menge Wasser geschluckt, während er den Schatz mit beiden Armen umklammerte.
    Er wechselte einen kurzen Blick mit Knud Erik und schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich und streckte die Arme triumphierend in die Luft. Sein Oberkörper zitterte noch immer vor Kälte, aber sein Gesicht leuchtete vor Freude.
    «Seht, was ich gefunden habe!», brüllte er.
    Sie starrten auf den Gegenstand, den er in den Händen hielt. Zunächst konnten sie nicht erkennen, was es war.
    Dann entfuhr Helmer ein Keuchen.
    «Das ist ein Toter!»
    Nun sahen es die anderen auch. Anton hielt einen Schädel in seinen Händen. Das Wasser hatte ihn grünlich verfärbt, und der Seegrasbewuchs hing von der Schädeldecke wie die Haare eines Ertrunkenen. Der Unterkiefer fehlte. Wo die Augen hätten sein sollen, gab es nur zwei leere Löcher, die die Jungen mit dem unergründlichen Blick der Toten anglotzten. Die entblößten Zähne im Oberkiefer grinsten in einem boshaften Triumph, als würde der Kopf das Schicksal voraussehen, das sie erwartete, wenn auch sie sich irgendwann einmal in die gleichen traurigen Reste eines Menschen verwandelten.

    «Nein», sagte Anton, «das ist kein toter Mann. Das ist etwas viel Besseres. Das ist ein ermordeter Mann.»
    Er ließ die Arme sinken und hielt uns den Schädel hin.
    «Seht selbst.»
    Sie umringten ihn. Er drehte den Schädel des Ermordeten um, damit sie ihn von allen Seiten betrachten konnten. Der Hinterkopf wies ein großes Loch auf.
    «Das ist ein Steinzeitmensch», sagte Knud Erik. «Er hat eine Axt über den Kopf bekommen.»
    «Das ist kein Steinzeitmensch», widersprach Anton.
    Er sah sie an.
    Und machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen, während er weiter seinen Blick von einem zum anderen wandern ließ.
    «Ich weiß, wer das ist.»
    «Wer denn?», fragten wir wie aus einem Mund.
    «Das sage ich noch nicht. Aber das war der Schatz, nach dem ihr suchen solltet.»
    Knud Erik und Vilhjelm wussten genau, dass Anton log. Sie hatten den Kopf von James Cook nicht gefunden, stattdessen etwas anderes, und Anton verstand es stets, das Unerwartete zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen.
    «Legt die Hand auf den Kopf des Ermordeten», erklärte er, «und schwört, dass ihr es niemandem erzählen werdet. Sonst sage ich niemals, wer es ist.»
    Alle legten sie eine Hand auf den Schädel. Das Seegras, das auf der Decke klebte, fühlte sich widerlich an, sie schauderten.
    «Schwört», sagte Anton.
    Sie schworen im Chor, dass sie das Geheimnis niemals verraten würden.
    «Sag schon, wer ist es?»
    «Später», erwiderte Anton und machte eine abwehrende Handbewegung, als wollte er sie

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