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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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würde auch die größte und stärkste Bande haben. Als Zeichen, dass er Antons Bedingungen akzeptierte, nickte er stumm.

    «Das ist kein Steinzeitmensch, dem man eins mit der Axt übergezogen hat», erklärte Anton.
    Er forderte Kristian auf, sich zu bücken, so dass sich ihre Köpfe auf gleicher Höhe befanden. Dann flüsterte er ihm den Namen des Ermordeten ins Ohr. Hinterher sahen sie sich in die Augen, um den Pakt zu besiegeln, den sie eingegangen waren.
     
    Als erste Aufgabe musste die neue Bande Waffen und Ausrüstung für die dazukommenden Rekruten beschaffen. Der Margarinemann, der von seinem Pferdewagen aus den Hausfrauen Butter und Margarine verkaufte, schenkte uns die Deckel gebrauchter Fässer. Wir banden Riemen daran, und es waren Schilde.
    Kristian Stærk erwies sich als nützlich, da er vom Eisenwarenhändler Samuelsen Rohrstöcke besorgte, aus denen wir Flitzebogen bastelten. Blumenstäbe wurden zu Pfeilen, aber im Grund waren sie nicht sonderlich effektiv, obwohl sie durchaus einen blauen Fleck hinterlassen konnten, wenn man von ihnen mit dem flachen Ende mitten auf die Stirn getroffen wurde. Wir versuchten, sie mit einem Messer anzuspitzen, aber das Holz war nicht hart genug. Anton kam auf die Idee, an den Spitzen der Pfeile Segelmachernadeln zu befestigen. Dann taten sie nicht nur weh, sondern drangen ins Fleisch und blieben dort stecken. Wer aus einer Schlacht kam, glich einem Igel, vor allem im Sommer, wenn die Nadeln nicht erst die Kleidung durchbohren mussten, sondern direkt auf die nackte Haut trafen.
    Das war in Ordnung. Nun wurde es gefährlich, und gefährlich sollte es sein. Wir hatten einen Namen, der verpflichtete, und den Kopf eines Ermordeten als gemeinsames Symbol. Nur die Gefahr eines wirklichen Todes war es wert, sich zu prügeln.
     
    Wir hatten gewisse Regeln. Alle Mitglieder mussten älter als zehn Jahre sein. Knud Erik und Vilhjelm waren zehn, andere im gleichen Alter wurden dennoch nicht aufgenommen. Denn die Aufnahmeprüfung war nur etwas für Verwegene. Man musste mit einem großen Stein in den Händen in den Hafen springen und sich ganz bis auf den Grund sinken lassen. Dann hatte man unter dem Kiel eines Schiffs hindurch- und auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Wenn der Stein dort unten verloren
ging, konnte man sich ebenso gut gleich von der Albert-Bande verabschieden. Es gab viele Erwachsene, die es nicht geschafft hätten, doch statt abzuschrecken, zog die Mutprobe jede Menge neuer Rekruten an. Alle wollten wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen. Wir stolperten mit aufgeschürften Wangen und Augen, die uns vor Sauerstoffmangel aus dem Kopf traten, in der flaschengrünen Dunkelheit umher, während der Kiel des Schiffs, der vor schwojendem Seegras, Muscheln und Krebsen zu leben schien, sich wie der bewachsene Bauch eines Pottwals über uns wölbte. Einer zerplatzenden Luftblase ähnlich tauchten wir von dem schlammigen Boden auf. Sobald sich unsere Lungen mit Luft gefüllt hatten, stießen wir einen Triumphschrei aus und kämpften, um nicht noch einmal mit dem Stein unterzugehen, der in dem Moment, in dem wir ihn über die Wasseroberfläche hoben, urplötzlich seine Schwerelosigkeit verlor.
    Dachten wir jemals daran, dass wir uns dort aufhielten, wo so viele unserer Väter ihr Ende gefunden hatten? Wir schworen, dass wir in den Stiefeln sterben wollten. Aber das taten Ertrinkende auch.
     
    Wir hatten Mitglieder aus allen Straßen der Stadt, auch aus dem südlichen Teil, der eigentlich immer das Territorium der Südbande gewesen war. Natürlich gab es auch einige alte Mitglieder der Nordbande, von denen wir uns verabschieden mussten. Es ging einfach darum, die Probe zu bestehen. Dann war es egal, aus welchem Teil der Stadt man kam. Es gab einen harten Kern in der Südbande, der sich nicht unterkriegen lassen wollte, und das kam uns nur gelegen. Wir mussten uns ja mit irgendjemandem prügeln. Wir setzten ihnen ziemlich zu, und meist waren sie es, die in der Klemme saßen. Manchmal prügelten wir uns auf den Holzflößen im Hafen oder gingen in gestohlenen Ruderbooten aufeinander los. Am häufigsten trafen wir uns aber auf einem Feld an der Vestergade, wohin die Erwachsenen nie kamen. Wir mussten ungestört bleiben, wenn wir uns Schrammen und Wunden, blaue Augen und Löcher im Kopf zufügten.
     
    Bis das Furchtbare mit Kristian Stærk passierte, war Henry Levinsen der Einzige gewesen, der bei all unseren Schlachten zu Schaden gekommen war. Er brach sich die

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