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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Nase, als Kristian Stærk ihm einen Übertopf aus
Kupfer, den Henry als Helm benutzte, mit einem Reusenpfahl über die Ohren schlug. Klempner Groth in der Nygade musste den Kupfertopf aufschneiden, und seither stand Henry Levinsens Nase schief.
    Die Erwachsenen nannten uns pikininis. Das bedeutete «Kinder» in einer Sprache, die weder Englisch, Deutsch noch Französisch war, sondern irgendwo weit weg in der Fremde gesprochen wurde – und genau dieses Gefühl hatten wir auch bei dem Wort. Wir fühlten uns wie Fremde, Eingeborene oder Wilde auf einer unentdeckten Insel.
    Hätten wir je darauf geachtet, dann wäre uns aufgefallen, dass es viele unter uns gab, die irgendwann auf der Straße oder im Schulhof standen und plötzlich zu weinen anfingen, weil sie an einen Vater dachten, den sie bei einem Schiffsuntergang oder im Krieg verloren hatten – immer der gleiche Tod durch Ertrinken, dem nie ein Begräbnis folgte.
    Aber mit dieser Art von Gedanken befassten wir uns nicht, obwohl es sicher einen Grund gab, dass wir härter zuschlugen als andere, wenn wir uns prügelten, und warum es uns egal war, wie weh es tat, wenn die anderen sich wehrten. Wir schlugen aufeinander ein, wie ein Schmied auf heißes Eisen schlägt. Wir prügelten uns, um uns selbst in eine Form zu bringen.
     
    Anton behauptete, der Ermordete stünde jede Nacht unter seinem Giebelfenster und riefe mit hohler Stimme zu ihm herauf, dass er ihm seinen Kopf zurückgeben solle. Wir glaubten ihm nicht. Wie sollte er denn rufen können, wenn sein Kopf sich zusammen mit Anton im Giebelzimmer befand?
    Ob wir denn nicht bemerkt hätten, dass der Unterkiefer fehlte?, wollte Anton wissen. Dort säße die Stimme. Er zeigte uns Fußspuren in den Kartoffelbeeten unter dem Giebel.
    Wir dachten, er habe sie selbst hinterlassen.
    Anton seufzte und sagte, diese Bürde müsse er wohl auf sich nehmen; nicht einmal seine Vertrautesten schenkten ihm Glauben, obwohl ihn ein großes und schwerwiegendes Wissen belaste. Denn er wusste nicht nur, wer der Ermordete war, er kannte auch den Mörder. Er warf uns einen Blick zu, der uns schaudern ließ.
    Wir glaubten ihm nicht alles. Trotzdem konnte er uns durchaus Angst einjagen.

    Wir konnten ja nicht ahnen, dass eines Nachts wirklich ein Mann im Garten stehen und nach Anton rufen würde.
    Es war nicht der Tote, der seinen Kopf wiederhaben wollte.
    Es war der Mörder. Und es war Kristian Stærk, der ihn geschickt hatte.

    Alles begann, als Anton weniger Geld als bisher zur Verfügung hatte und seine tägliche Zahl an Woodbine -Zigaretten reduzieren musste, die ihm diese männliche Stimme gaben, durch die er erheblich älter wirkte, als er tatsächlich war. Er sagte, irgendetwas sei mit der Knallbüchse nicht in Ordnung, wie er das Luftgewehr seines Vetters nannte, denn plötzlich erlegte er weniger Spatzen als gewöhnlich. Die Möglichkeit, dass er allmählich am Ende des Bestandes angelangt war, wies er als Quatsch zurück. Das Gewehr war die einzige Erklärung.
    Er wollte die Knallbüchse daher einer endgültigen Probe unterziehen und beschloss, einen wirklich großen Vogel zu schießen; tatsächlich handelte es sich um den größten Vogel, den es in Marstal gab. Es war ein Entschluss, der unserer Ansicht nach sein wirkliches Format zeigte, der aber gleichzeitig Bedenken bei uns hervorrief, ja uns nachgerade betrübte. Denn es war ein Vogel, den die ganze Stadt mochte. Er hatte sogar einen eigenen Namen. Den hatten die zahlreichen Arapa-Papageien, Kakadus, Nymphensittiche, Beos und Kanarienvögel, die die Seeleute im Lauf der Jahre mit nach Marstal gebracht hatten, natürlich auch. Doch die Papageien saßen in ihren Bauern und knabberten Würfelzucker, das war also etwas anderes. Anton selbst besaß die halbzahme Sturmmöwe Tordenskjold. Aber der Vogel, dem er nun ans Leder wollte, war ein freier und stolzer Vogel, der jedes Jahr so weit fortzog, wie die Seeleute segelten. Wir waren stolz darauf, dass er sich unsere Stadt ausgesucht hatte, um sein Nest zu bauen.
    Es war der Storch auf dem Dach von Goldsteins Haus. Wir nannten ihn Frede.
    Der Storch hatte sich einen eigenartigen Platz zum Wohnen ausgesucht. Störche bauen gern hoch, aber Goldsteins Haus, das am Ende
der Markgade lag, war ein niedriges, gelb gekalktes Fachwerkgebäude mit einem roten Ziegeldach, das aussah, als ob es über die zusammengesunkenen Mauern gerutscht wäre. Abraham Goldstein war Schuhmacher, ein weißbärtiger, sanftmütiger Mann mit tief liegenden

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