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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Augen. Niemals schaute er jemanden an, und dafür gab es einen Grund. Es hieß, er habe den bösen Blick. Begegnete ihm ein Kapitän auf dem Weg zu seinem auslaufbereiten Schiff, verschob er die Reise auf den nächsten Tag. Einige hatten Abraham Goldstein am frühen Morgen im Frühjahr auf dem Marktplatz stehen sehen und gehört, wie er die Spatzen zu sich rief. Die Spatzen setzten sich auf seine Hände und die ausgestreckten Arme, bis hin zu seinen hängenden Schultern. Auch auf seinem Hut ließen sie sich nieder.
    Andere sagten, es sei alles Blödsinn, Goldstein sei ein ganz gewöhnlicher Mann, den man nach seinen Fähigkeiten beurteilen solle, ein Paar Stiefel zu besohlen. Und was das anging, so gab es niemanden, der sich beklagen konnte.
    Wir liefen an einem Sonntagnachmittag im Juli zu Goldsteins Haus; die Hitze hatte alle an den Strand getrieben, und wir gingen davon aus, dass Anton den Storch ohne Zeugen erschießen konnte. Die ganze Angelegenheit hatte etwas unendlich Trauriges. Trotzdem mussten wir es sehen, obwohl wir damit rechneten, dass wir in dem Moment die Augen schließen würden, wenn der Storch zum letzten Mal mit den schwarzweißen Flügeln schlug, seine roten Beine hob und aus dem großen Reisighaufen taumelte, aus dem sein Nest bestand. Wir hatten das unbestimmte Gefühl, dass große Männer und sinnlose, traurige Ereignisse zusammengehörten; so jedenfalls erging es uns mit Anton. Aber wir waren sicher, dass er für etwas Großes ausersehen war, und wir wollten dabei sein, wenn es geschah.
    Anton legte das Gewehr an und kniff ein Auge zu. Lange stand er so da, als wäre er sich seines Ziels nicht sicher; uns schien seine Hand ein wenig zu zittern. Wir schauten auf den Storch. In diesem Augenblick nahmen wir Abschied von ihm und glaubten, dass Anton das Gleiche tat. Dann drückte er den Abzug.
    Wie auf Kommando schlossen wir die Augen. Eine ganze Weile verharrten wir so. Es war ganz still nach dem Schuss. Wir vermuteten, dass man den Knall bis auf die Halbinsel vernommen hatte. Dann hörten wir
Anton fluchen. Wir öffneten die Augen und blickten zum Dachfirst hinauf. Der Storch stand ungerührt in seinem Nest und machte den Eindruck, als wäre er eingeschlafen.
    Bleiben Störche einfach stehen, wenn sie erschossen werden? Es sah aus, als hätte die Kugel den stolzen Vogel ausgestopft, statt ihn in einen kläglichen Haufen aus Federn und langen roten Beinen zu verwandeln.
    Es verging einige Zeit, bevor uns der Grund für die Reglosigkeit des Storchs klar wurde.
    Anton hatte danebengeschossen.
    Mit einer wütenden Bewegung lud er das Luftgewehr und schoss noch einmal. Er schoss, bis er keine Patronen mehr hatte. Der Storch rührte sich nicht. Man konnte meinen, er sei taub. Doch ob er nun taub war oder nicht, eines war ganz sicher: Trotz Antons Kanonade mit der Knallbüchse hatte Frede keinerlei Schaden genommen.
    Plötzlich wurde die Tür von Goldsteins Haus aufgerissen, und ein Mann tauchte in der Türöffnung auf. Statt auf Goldsteins gedrungene Altmännergestalt fiel unser Blick auf einen Hünen, der sich bücken musste, um durch die kleine Tür zu kommen. Er trug einen blauen Overall. Darunter war der sonnengebräunte Oberkörper nackt, und wir sahen seine kräftigen Oberarme und Tätowierungen, die sich blau und rot über seine Muskeln schlängelten. Es war Goldsteins Schwiegersohn, Bjørn Karlsen, der als Takler auf der Werft für die Stahlschiffe arbeitete. Er hatte seinen Mittagsschlaf gehalten und war von Antons Knallerei aufgewacht.
    «Zum Teufel noch mal, Bursche!», brüllte er und schwang drohend die Faust. «Schießt du etwa auf den Storch?»
    Es hatte den Anschein, als würde Anton ihn nicht hören. Er hielt die Knallbüchse in den Händen und starrte sie mit einem so hasserfüllten Blick an, dass wir nur hofften, er würde sie niemals auf uns richten. Am liebsten wären wir abgehauen, aber wir hatten das Gefühl, dass wir Anton in diesem Augenblick nicht allein lassen durften. Wir begnügten uns damit, ein paar Schritt zurückzuweichen.
    Anton stand ganz allein auf dem Bürgersteig, als Bjørn Karlsen mit Riesenschritten über die Straße kam und ihn am Nacken packte. Er riss Anton am Hemdkragen hoch, bis die Füße hin- und herbaumelten, als
wäre er ein kleines Kind – und wahrscheinlich war er auch nichts anderes in den Augen des wütenden, beinahe zwei Meter großen Taklers. Für uns stellte Anton natürlich alles andere als ein kleines Kind dar, aber in diesem Moment ahnten

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