Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
prügelte los wie gewöhnlich. Als ihm klar wurde, dass man ihn an der Nase herumgeführt hatte, brach er regelrecht zusammen. Die Hand mit dem Tampen fiel schlaff herab. Er stand auf den Kajütendielen und zitterte, als hätte er hohes Fieber.
    «Beim glühenden Satan», zischte er, «eines Tages wirst du den Belegnagel kennenlernen.»
    Dann stürmte er die Leiter hoch auf Deck.
     
    Wenn der Steuermann Nachtwache hatte und am Ruder stand, wurde Knud Erik regelmäßig geweckt. Dann hatte er Kaffee zu kochen oder an Deck zu kommen, um im strömenden Regen ein Segel zu reffen. Unter ihm kochte das Meer. Selbst in der Dunkelheit konnte er tief unter sich den Schaum erkennen. Auf seinen Wangen mischten sich kalte Regentropfen mit Tränen. Aber er weinte nicht aus Ohnmacht oder Selbstmitleid. Er weinte aus Wut und Trotz.

    Zu Anfang der ersten Reise hatte er den Kopf in die Koje gepresst und geweint. Er weinte um seinen toten Vater und um seine abweisende Mutter, für deren Kälte er sich selbst die Schuld gab; und er weinte über sich und sein vages Gefühl, der Arbeit nicht gewachsen zu sein. Obwohl er den Entschluss, Seemann zu werden, selbst gefasst hatte, war er sich nicht mehr sicher in seiner Entscheidung; und nun kam es ihn teuer zu stehen. Doch es war nicht mehr zu ändern. Alles andere wäre eine Niederlage gewesen, deren Ausmaß er überhaupt nicht übersehen konnte.
    Der Steuermann setzte den Schlaf gegen ihn ein. Es kam vor, dass Knud Erik ganze Tage nicht schlief. Ständig wurde nach ihm gerufen, auch in finsterster Nacht, und er musste, nur mit seiner Unterhose bekleidet, ins Rigg. Aus den Berichten der anderen wusste er, dass es so ablief, wenn man der Jüngste an Bord war. Die Bramsegel in fünfundzwanzig Metern Höhe waren der Arbeitsplatz der Unerfahrenen. Die Matrosen enterten dorthin nicht auf. Man wurde in den Großmast geschickt, um die Großbramstagsegel zu bergen, und schlingerte in den Fußpferden; eine Hand am Handpferd und die andere am Segel. Was immer man gelernt haben mochte oder auch nicht, egal, ob man nun schwindlig wurde oder einfach nur ein ungeschickter Trottel war, der sich selbst in Gefahr brachte, es ging nur darum hochzukommen und zu hoffen, dass man auch wieder herunterkam.
    Das Spiel in der Takelage der Schiffe im Hafen von Marstal war eine Art Vorschule gewesen, doch hier ging eine höllisch hohe See, und es blies ein heulender Wind. Alle hielten es für selbstverständlich, dass man lebend wieder herunterkam. Niemand schien zu bemerken, dass sich danach ein Überlebender auf Deck bewegte.
    Knud Erik hatte dort oben gehangen, das schmale Schiffsdeck unter sich, ängstlich wie nie zuvor in seinem Leben, so verkrampft und kraftlos in all seinen Muskeln, dass er glaubte, seine Hände würden von allein loslassen, um sich von der Spannung zu befreien. Er hatte derartige Angst, dass er schrie. Niemand hörte ihn, doch es war dieser Schrei hinaus in den leeren Raum, der ihn rettete, der das Leben in seine Gliedmaßen zurückkehren ließ und ihm zu Kraft in den Händen und der Besonnenheit in dem schwindelnden Kopf verhalf, die ihn wieder hinunterbrachte.
    Für Knud Erik personifizierte sich das unerbittliche Gesetz des Schiffs
im Steuermann. Und hinter dem Steuermann fand er das Meer. Pinnerup war wie das Meer, gefährlich und gierig. Wurde man nicht hart, ging man zugrunde. Er hörte auf, sich über Ungerechtigkeiten Gedanken zu machen. Er hörte auf, die Schläge und die groben Beschimpfungen als Angriffe zu betrachten. Stattdessen überkam ihn ein Gefühl, das er bisher nicht kannte. Er hasste den Steuermann. Er hasste das Schiff. Er hasste das Meer. Und der Hass hielt ihn auf den Beinen, wenn er auf dem schrägen Deck mit der Kaffeekanne durch die dunkle Nacht balancierte und ihm die brühheiße Flüssigkeit plötzlich über die Finger lief. Der Hass ließ ihn die Salzwasserbeulen am Hals und an den Handgelenken ertragen, wo der ewig nasse Wollpullover scheuerte und die betroffenen Hautpartien große Blasen bildeten, die sich mit Flüssigkeit füllten. Der Hass führte dazu, dass er nicht protestierte, wenn der Steuermann ihn am Nacken packte oder sein Handgelenk an genau der Stelle verdrehte, wo die Beulen am empfindlichsten und kurz vorm Platzen waren.
    Der Hass war der Ort, an dem er wuchs und lernte.
    Es war hart, ein Mann zu werden. Aber er wollte es. Er wurde zäh, stumpf und hart. Sein Kopf und sein ganzer Körper wurden zu einem Rammbock.
    Er begriff, dass er nur ins

Weitere Kostenlose Bücher