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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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einmal.»
    «Und wie war das?»
    Er hatte keine Lust zu antworten.
    «Mein bester Freund ist gerade ertrunken. Er ist mit der Ane Marie untergegangen, die auf dem Weg hierher war», sagte er stattdessen.
    Sie sah zu Boden. Einen Moment schien sie sich sammeln zu müssen. Als sich ihre Blicke wieder trafen, lächelte sie aufmunternd.
    «Du wirst sicher auch eines Tages ertrinken.»
    Sie sagte es in einem vollkommen alltäglichen Ton, als würde sie ankündigen, dass in Kürze das Abendessen serviert wird.
    Knud Erik dachte sofort, was für ein Blödsinn, so etwas zu sagen. Was meinte sie? Glaubte sie etwa, in die Zukunft sehen zu können?

    Wieder spürte er, wie sie ihren Blick auf ihn richtete. Sie schaute ihn prüfend an, als wollte sie herausfinden, welche Wirkung ihre Worte hatten.
    Knud Erik blickte zur Seite. Die Vertrautheit zwischen ihnen war zerstört. Ihn überkam die Trauer über Vilhjelms Tod, und er wurde wütend.
    «Verwünscht du mich etwa?»
    «Bist du schon mal in einer Großstadt gewesen?», fragte sie mit einem unsicheren Klang in der Stimme.
    «Ich war in Kopenhagen.»
    «Das ist keine richtige Großstadt, glaube ich. Träumst du nie von London oder Paris, von Schanghai und New York?»
    Knud Erik schüttelte den Kopf.
    «Ich träume von Kap Hoorn», antwortete er.
    «Wie schade. Dann können wir also nicht zusammen fliehen. Denn zum nassen, kalten Kap Hoorn will ich nicht. Uff, bist du langweilig.»
    Sie fing an zu lachen. Dann beugte sie sich vor und nahm seinen Kopf in ihre Hände.
    «Aber du sollst trotzdem einen Kuss bekommen, bevor du gehst.»
    Sie sah ihm in die Augen. Einen Moment dachte er daran, sich loszureißen, aber dann sah er ein, dass es kindisch wäre, Widerstand zu leisten. Er musste es wie der Mann hinnehmen, zu dem er in den letzten Monaten geworden war. Er hielt ihrem Blick stand, und in diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges mit ihm. Ihn durchfuhr so etwas wie ein Schaudern, aber nicht aus Unbehagen, sondern aus einem anderen, ihm unbekannten Grund. Etwas Großes und Wunderbares ahnend, lief ein leises Zittern durch seinen Körper. Er schloss die Augen, um den Kuss zu empfangen, dann wurde er an einen Ort geführt, von dem er instinktiv wusste, dass kein Schiff ihn jemals dorthin würde bringen können.
    Er spürte ihre Lippen, deren weiche Fülle sich mit einem leichten Saugen an seinen Mund presste, und er wünschte, dass sie nie wieder getrennt würden. Mit einem elektrischen Knistern glitten seine Hände, die auf den Armlehnen des Stuhls gelegen hatten, ihren Rücken hinauf. Als er den bloßen Nacken unter dem kurz geschnittenen Haar erreichte, strich er vorsichtig über dessen Rundung. Er öffnete ein wenig den Mund und wünschte, sie würde das Gleiche tun; er wünschte, ihr Atem
würde sich treffen, und er könnte ihre Luft ganz tief in seine Lungen saugen und durch sie atmen. Als würde er ertrinken. Doch im Wasser ließ sich nicht atmen. Nun öffnete er sich für ein anderes Element, das ihn ebenso erfüllen sollte. Er spürte, wie sie ihm folgte und ihre Lippen sich ganz vorsichtig teilten. Sie atmeten durch den Mund des anderen, sie sogen sich gegenseitig die Luft aus den Lungen. Er küsste Miss Sophie, als küsste er die Welt, und die Welt gab ihm diesen Kuss zurück und erfüllte ihn mit ihrem süßen Atem.
    Dann entzog sie sich, griff sich mit der Hand an die Bluse und lachte.
    «Also küssen kannst du.»
    Sie reichte ihm eine Serviette vom Tisch.
    «Besser, du wischst dir den Lippenstift ab.»
    Abwehrend hob er die Hand, als würde sie ihm etwas Wertvolles rauben wollen.
    «Doch, komm schon.»
    Wieder lachte sie. Dann fasste sie ihn an den Schultern und wischte ihm den Mund mit der Serviette ab.
    «Du kannst doch Mr. Smiths Haus nicht mit einem von Lippenstift verschmierten Gesicht verlassen.»
    Sie schaute ihn prüfend an.
    «Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, wie hübsch du bist?»
    Ihre Stimme klang neckend. Sie stand auf, nahm ihn bei der Hand und führte ihn an die Tür zur Halle.
    «Hier sagen wir uns Lebewohl.»
    «Sehen wir uns wieder?», fragte er und wusste sofort, dass er sich mit dieser Frage verraten hatte.
    Sie gab ihm die Hand und blinzelte ihm zu.
    «Gute Reise nach Kap Hoorn.»
     
    Am nächsten Tag erschien sie nicht. Am Nachmittag lief er ständig zur Reling, um über den Hafen zu schauen. Seine Ruhe war dahin, seit er Mr. Smiths Haus verlassen hatte. Eigentlich glaubte er nicht, dass es sich um Liebe handelte. Es war etwas

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