Wir Ertrunkenen
zu nahe kamen – und er dachte an nichts.
Der Sturm hielt an, aber die Kristina trotzte ihm, und selbst die Angst vor dem Ertrinken wurde von der Eintönigkeit und den ständigen Schmerzen der Salzwasserbeulen verdrängt, die sich an seinen Armen und um seinen Hals gebildet hatten. Dass sich keine der offenen Wunden entzündete, lag am reinigenden Salzwasser, das ihn ständig durchnässte.
Dreißig Tage stampften sie so durch das Meer. Manchmal sank der schwarze Küstenstreifen so tief hinter den Horizont, dass er sich wie ein Bleistiftstrich zwischen Himmel und Meer dahinzog, dann wuchs er erneut und türmte sich über ihnen auf wie ein Amboss, auf dem der Hammer des Meeres schon bald den zerbrechlichen Rumpf der Kristina zerschmettern würde.
Ob sich die Küste nah oder fern befand, bedeutete schließlich überhaupt nichts mehr. Die schwarzen Felsmassive stellten weder Rettung noch Bedrohung dar. Sie waren nicht einmal Land, sondern ein Teil der Monotonie, ebenso wirklich oder unwirklich wie die regenschweren Wolken über ihren Köpfen. Tage und Nächte kamen und gingen.
Hatte er mitten am Tag Freiwache, taumelte er wie betäubt zum Bug, wobei er sich an das Tau klammerte, das ins Rigg gespannt war, um Halt zu geben, wenn man das Deck überqueren wollte. Er stand bis zum Bauch im Wasser, wenn eine See mittschiffs überkam, und spürte den Sog an den Beinen, während der Schaum um ihn herum kochte. Er fühlte sich wie ein Seiltänzer, der keinen festen Grund mehr unter den Füßen
hat und an den Armen an einem Seil hängt, das zwischen zwei Punkten am Himmel gespannt war. Als würde er sich nicht mehr auf einem Schiff befinden, sondern allein über dem leeren Meer hängen.
Dann erreichte er das Logis und stolperte die Leiter hinunter in die dunkle, übelriechende Unterkunft, deren Boden überschwemmt war. Der Ofen blieb kalt, aus Angst vor den Abgasen. Er kroch in seine Koje, ohne sich auszuziehen. Wozu auch? Wie sollte er seine Sachen trocknen? Sie waren voller Salz, und das Salz zog Feuchtigkeit und Gischt an. Er krümmte sich zusammen und fiel in einen bewusstlosen Schlaf, bis eine Hand ihn rüttelte und er aus der Koje torkelte. Die Stiefel platschten im Wasser auf den Bodendielen. Dann ging es die Leiter hinauf und hinein in die Dunkelheit oder das graue Licht – es war längst einerlei. Er empfand sich als Diener des Schiffs, als dessen blindes Werkzeug im Kampf gegen den Sturm. Er dachte nicht länger an sein eigenes Überleben, nur an Segel, die gerefft oder geborgen werden mussten, an Tauwerk, das festzumachen war.
Dann endlich legte sich der Wind. Das Meer ging noch immer mit schwerer Dünung, aber es heulte nicht mehr in der Takelage, und auf den Wellen bildete sich nicht mehr dieser unheilvolle Geifer aus Schaum. Die Sonne brach durch die Wolkendecke, die Haifischbäuche unter dem Himmel waren verschwunden. Die schwarze Küstenlinie wurde wieder zu Land, zu einem Ort, der erreicht werden konnte, zur Erfüllung eines unmöglichen Traums: festen Boden unter den Füßen zu haben. Es brauchte Zeit, um sich nach dreißig Tagen im Epizentrum des aufgewühlten Meers daran zu gewöhnen.
Zwei schwarze Felsen mit senkrechten Kanten tauchten voraus auf. Dazwischen klaffte eine Öffnung.
«Das schwarze Loch«, sagte Bager, bleicher als je zuvor, «die Einfahrt nach St. John’s.»
Er wandte sich an Knud Erik, der am Ruder stand.
«Nun bekommst du doch noch deinen Willen», sagte er lachend, «wir laufen St. John’s an, um Proviant zu bunkern.»
Knud Erik hatte Miss Sophie nicht vergessen. Er hatte sich selbst vergessen, und die Eintönigkeit des Sturms hatte zusammen mit allem anderen auch sie verdrängt. Mit den Worten des Kapitäns und dem Anblick der Öffnung zwischen den beiden Felsen, die er «das schwarze Loch» nannte, kehrte Miss Sophie zurück. Mehr denn je war es ihm wichtig, sie wiederzutreffen. Er bekam noch eine Chance und spürte plötzlich, dass es kein Zufall sein konnte. Alles hatte wieder einen Sinn, und dieser Sinn wies in eine einzige Richtung: auf Miss Sophie.
Er vergaß die Salzwasserbeulen und sein nasses Zeug. Die Willensanstrengung, die er dreißig Tage hatte aufbringen müssen und die ihm mehr Schmerzen zugefügt hatte als irgendeine physische Anstrengung, wich von ihm. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Sturm vorüber war, doch in seinem Inneren kam sofort ein neuer auf. Bei den Worten des Kapitäns spürte er, wie ein ungeduldiger Wind sein Blut peitschte und das Herz
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