Wir Ertrunkenen
anderes, beinahe so, als müsste man nach einem festen Halt auf dem krängenden Deck suchen, wenn die Kristina unerwartet überholte.
Er dachte mit einer gewissen Gereiztheit an sie, ja geradezu mit Wut und einer unbändigen Rachsucht. Sie hatte ihn gedemütigt, ihm den Mund mit der Serviette abgewischt, als wäre er ein Kind. An den Kuss, den sie ihm gegeben hatte, mochte er nicht denken. All die widersprüchlichen Gefühle, die die Erinnerung daran in ihm wachrief, ließen sich kaum in Worte fassen. Er hatte sich sehr klein und gleichzeitig sehr groß gefühlt. Der Kuss hatte eine Sehnsucht in ihm geweckt, die schmerzte; ein Brennen tief in seinem Selbstgefühl.
Den anderen fiel seine Unruhe auf.
«Hältst du Ausschau nach etwas Besonderem?», erkundigte sich Dreymann.
Die Matrosen grinsten, auch Helmer, der kleine Scheißkerl. Sie hatten ihm viele Fragen gestellt, als er von seinem Besuch zurückkam, aber er hatte nur wortkarg und abweisend geantwortet.
«Wie war sie?», wollte Rikard wissen und wackelte mit der nackten Meerjungfrau am Arm.
«Sie ist schon in Ordnung», sagte er nur, «wir haben Tee getrunken und Kuchen gegessen.»
«Habt ihr nichts anderes gemacht?»
Sie sahen ihm prüfend ins Gesicht.
«Schaut euch die hübschen braunen Augen an.»
Rikard sprach mit spöttisch verzerrter Stimme.
«Weißt du, warum deine Augen braun sind?»
Knud Erik schüttelte hilflos den Kopf. Er wusste, dass er die eine oder andere Grobheit zu erwarten hatte.
«Weil dir jemand als Kind so hart in den Arsch getreten hat, dass die Scheiße den umgekehrten Weg nahm.»
Er stand da und wurde lächerlich gemacht, es war ihre Schuld.
Und dann erschien sie nicht.
Die Tage vergingen, einer nach dem anderen, und alle waren gleich. Der Klippfisch wurde unter einer unverändert grauen Wolkendecke geladen, und sie tauchte nicht auf. Er hing auf dem krängenden Deck herum und litt.
Die anderen zogen ihn auf. Er spürte, wie er jedes Mal rot wurde, wenn sie eine Andeutung machten.
«Knud Eriks Liebste» wurde sie genannt.
«Hast du heute schon deinen Kuss bekommen?», erkundigte sich Rikard.
Oder am allerschlimmsten: «Sie hat doch nicht etwa schon genug von dir?»
Der Klippfisch reichte jetzt bis fast an den Lukenrand. Bald war es vorbei, und die Reise nach Portugal begann. Er würde Miss Sophie nie wiedersehen.
In seiner Verzweiflung beschloss er, das Unerhörte zu tun. Er musste sie in der großen grün gestrichenen Villa aufsuchen. Vielleicht sogar auf die Erde spucken. Irgendetwas tun, damit ihr klar wurde, dass sie ihm nichts bedeutete und er seine eigene Welt hatte, die sie nicht erschüttern konnte.
Am Tag vor der Abreise machten sie das Schiff klar zum Ablegen. Knud Erik wusste nicht, wie er es anstellen sollte, sie noch einmal zu sehen. Seine Unruhe schlug in Panik um. Er hatte das Gefühl, in seiner Welt würde eine Katastrophe geschehen, wenn er sie nicht ein letztes Mal sähe. Mit einem Satz sprang er über die Reling aufs Pier und rannte hinauf zur grünen Villa. Er hörte Dreymann hinter sich herrufen, aber er drehte sich nicht um.
Obwohl man die Villa von der Kristina aus sehen konnte, hatte er einen langen Weg zurückzulegen, und den größten Teil ging es bergauf. Als er ankam, rang er nach Luft. Dennoch zögerte er vor der großen Haustür nicht, sondern klopfte energisch an. Bei dem Versuch, Atem zu schöpfen, musste er die Hände auf die Oberschenkel stützen.
Als die Tür geöffnet wurde, hatte sich seine Haltung nicht verändert.
Doch nicht Miss Sophie stand vor ihm, so wie er es sich die ganze Zeit über ausgemalt hatte, wenn er mit glühenden Wangen über dieses Treffen phantasierte: Es sollte ihr letztes sein – dann wäre er endlich wieder frei. Es war die ältere Frau, die ihn bei seinem ersten Besuch ins Haus geführt hatte.
Sie starrte ihn fragend an, als ob sie erwartete, dass er eine wichtige Nachricht für den Besitzer des Hauses hätte, den mächtigen Mr. Smith.
«Miss Sophie», keuchte er, außerstande, sich aufzurichten und nach dem langen Spurt Atem zu holen.
Sie schüttelte den Kopf und sagte einige Worte auf Englisch, von denen er lediglich die beiden letzten verstand.
«… not here.»
Es war ihr Kopfschütteln, das ihm den Sinn dieser Worte erschloss, und hätte er sich nicht in einer so erbärmlichen Verfassung befunden, wäre er sicherlich auf sie losgegangen – als könnte er sie für die Abwesenheit des begehrten Objekts seiner ambivalenten Sehnsucht
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