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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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noch einmal zusammen, und Knud Erik roch ihren scharfen Schnapsatem. Dann gelangte er auf die Straße. Ein Kutscher fluchte und schlug mit der Peitsche nach ihm. Knud Erik begann, im Rinnstein zu laufen. Er kam zur Kreuzung an der King’s Road und entdeckte sie auf der anderen Straßenseite. Kurz darauf verlor er sie wieder aus den Augen, war sich nun aber sicher, dass er ihr auf der Spur war. Er hörte auf zu laufen. Es war ein Teil des Spiels. Er wollte sie nicht zu schnell einholen.
    Sie mussten sich noch einmal küssen. Und danach? Nichts. Der Kuss war genug. Noch einmal die Luft ihrer Lungen einatmen.
    Knud Erik ging nun wieder schneller. Eine schwebende Leichtigkeit erfüllte seinen ganzen Körper. Noch nie hatte er einen solchen Glauben an sich selbst gehabt wie in diesem Augenblick.

    Die Straße lag jetzt vollkommen leer vor ihm. Die Signal Hill Road begann langsam den Berg anzusteigen, der hoch oben vom Cabot Tower gekrönt wurde. Er sah die Festung als schwarze Silhouette vor dem sich schlängelnden Band der Milchstraße. Es schien ihm, als würde der Sternenhimmel seine Bewegungen nachvollziehen – wie ein Schwarm schimmernder Zugvögel auf ihrer herbstlichen Reise durch die Nacht.
    Er sah sie ein gutes Stück weiter oben am Hang, eine schwarze Gestalt, die sich von der mit weißem Raureif bedeckten Straße abhob. Sie glitt nach oben, als würde sie von einer unsichtbaren Schnur gezogen.
    Wieder begann er zu laufen, geriet außer Atem und musste einen Moment stehen bleiben, um Luft zu holen. Als er seinen Spurt wieder aufnahm, rannte er an einem See und ein paar Bäumen vorbei. Alles war durch den Raureif versilbert, der wie die Sterne am frostklaren Nachthimmel schimmerte. Unter sich erblickte er den schwarzen Wald aus Masten und die hell erleuchteten Wirtshäuser entlang der Wattes Street.
    Sie hatte den Cabot Tower erreicht, bevor er sie einholte. Noch immer wandte sie ihm dem Rücken zu, als sie stehen blieb und über das Meer starrte, das sich vor dem Hafen in alle Richtungen erstreckte. Einen Moment blieb auch er wie verzaubert vom Anblick dieser enormen Ausdehnung stehen.
    «Sophie!», rief er.
    Er fühlte sich mit einem Mal unsicher. Sie drehte sich um. In ihrem Gesicht war keinerlei Überraschung zu sehen.
    «Ja, Knud Erik», sagte sie nur.
    Ihre Lippen wirkten schwarz in dem schwachen Sternenlicht.
    «Was willst du von mir?»
    Der Rausch gab ihm seinen Mut zurück. Er breitete die Arme aus und wollte sie umarmen.
    «Bist du betrunken? Warst du in einem Wirtshaus in der Water Street?»
    Er sah sie gekränkt an.
    «Ich bin nicht betrunken. Ich will nur einen Kuss.»
    Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte bereits vergessen, dass er eigentlich hätte beleidigt sein sollen. Er befand sich an einem Ort, an dem nur freudiger Gesang für ihn Sinn ergab.

    Knud Erik umfing sie mit einer unerwartet heftigen Umarmung. Er beugte sich vor und fand ihre Lippen. Sie rührte sich nicht. Er hatte die Augen geschlossen, öffnete sie nun aber wieder. Sie starrte vor sich hin und schien ihn nicht zu sehen. Vorsichtig presste er seine Lippen auf ihre und hoffte, dass sich der Zauber des ersten Kusses wiederholen würde, aber nichts geschah.
    Dann stieß sie ihn von sich.
    «Geh!», sagte sie. «Hörst du! Lass mich in Ruhe!»
    Diesmal schrie sie, und ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz. Sie stampfte mit ihrem Stiefel auf die gefrorene Erde.
    «Hör auf, mir nachzulaufen wie ein Hund!»
    Urplötzlich packte ihn eine Wut, die ebenso heftig war wie zuvor seine Liebe.
    «Du nennst mich nicht einen Hund!», schrie er.
    Knud Erik packte sie an den Schultern und fing an, sie zu schütteln. Sie war größer als er, aber er war der Stärkere. Ihr Kopf flog hin und her, aber ihre Augen starrten ihn weiterhin trotzig an.
    «Hund!», sagte sie noch einmal.
    Er ließ sie unvermittelt los, atmete schwer und erregt.
    «Schlampe!»
    Er spuckte ihr zwischen die Stiefel.
    Dann drehte er sich um und lief den Signal Hill hinunter.
    «Knud Erik!», rief sie ihm nach.
    Er blieb nicht stehen. Mehrmals stolperte er bei seinem wilden Lauf über die gefrorene Erde, doch der Rausch war noch nicht verflogen und verhalf ihm zu einer seltsamen Leichtfüßigkeit. Die Kälte versetzte ihm eine Ohrfeige nach der anderen.
    Er erreichte den Fuß des Berges und fand eine veränderte Stadt vor. Die Wirtshäuser am Hafen hatten geschlossen. Die dichte Menschenmenge, die die Bürgersteige der Water Street bevölkert hatte, war

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