Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
persönlich verantwortlich machen.
    «Wo?», stöhnte er heiser, noch immer außer Atem.
    Die Frau schaute ihn missbilligend an, so als müsste sie überlegen, ob sie diesen verwilderten Burschen überhaupt einer Antwort für würdig hielt.
    «St. John’s», sagte sie und schaute ihn mit einem Blick an, in dem, wie er glaubte, sowohl Boshaftigkeit als auch Mitgefühl lagen, wenn so etwas überhaupt möglich war.
    St. John’s. Jetzt begriff er. Die größte Stadt Neufundlands, ein Hafen, der häufig von Schonern aus Marstal angelaufen wurde. So viel wusste er. Er wusste auch, dass es nicht der Zielhafen der Kristina war.
    Miss Sophie war verreist. Daher zeigte sie sich nicht mehr auf ihren täglichen Rudertouren. Sie befand sich an einem anderen Ort auf dieser großen Erde; sie würden sich niemals wiedersehen.
    Etwas, das ungewiss begonnen und alle Möglichkeiten offengelassen hatte, war bereits zu Ende.
     
    Bager erwartete ihn.
    «Was fällt dir ein, Junge?», schimpfte er und versetzte Knud Erik einen Schlag in den Nacken.
    «Wie weit ist es bis St. John’s?», erkundigte Knud Erik sich, ohne den Schlag zu beachten.
    «Hat dich der Teufel geritten?», polterte der Kapitän und schlug ihn noch einmal. «Einhundertachtzig Seemeilen. Aber wir wollen nicht nach St. John’s und Schürzen jagen. Wir müssen nach Setubal, mit Klippfisch für die Katholiken.»
    Die Schläge waren nicht sonderlich hart, es waren eher Klapse. In Bagers Stimme hatte sich ein persönlicher Ton eingeschlichen. Er sah aus, als amüsierte er sich.

    «Spinnkopf», sagte er, «bestimmst du jetzt etwa den Kurs? Ich habe es Mr. Smith gleich gesagt. Ich habe gesagt, er soll mehr auf dieses Mädchen achten. Sie macht die Leute verrückt. Verzogene Göre!»
     
    Das Barometer war gefallen, als sie am nächsten Morgen Little Bay verließen und durch die Notre-Dame-Bucht ausliefen. Regenschauer kamen und gingen, aber das Meer blieb ruhig. Am späten Nachmittag hatten sie als Landmarke den Leuchtturm auf Fogo. Sie mussten bis St. John’s der Küste folgen, bevor sie in den Atlantik gelangten.
    In der Nacht frischte es zu einem Südoststurm auf, und sie begannen, auf die Felsküste zuzutreiben. Knud Erik hatte die hohen schwarzen Gesteinsformationen tagsüber durch den Nebelregen ausgemacht. Nun rückten sie in der undurchdringlichen Dunkelheit der Nacht unsichtbar näher, und das ferne Dröhnen der Brandung warnte uns vor ihm. Die Freiwache wurde geweckt und bekam den Befehl, sich Ölzeug anzuziehen, so dass sie jederzeit an Deck kommen konnte.
    Suchend glitten die Lichtstrahlen des Leuchtturms an Kap Bonavista über das aufgewühlte Meer und ließen die Segel über ihren Köpfen einen Moment lang gespenstisch aufleuchten. Sie befanden sich nahe der Küste und refften die Segel, bis das Schiff nur noch unter der Stagfock segelte. Die Kristina verlor jeglichen Vortrieb und stampfte in ihrem Kampf mit dem Sturm nur noch in den aufgepeitschten Wellen.
    Die Blinkzeichen des Leuchtturms erschienen und verschwanden wie ein Stern, der dem Wasser zu nah kommt, von einer Welle verschluckt wird und sich dann wieder freikämpft. Aus der Dunkelheit tauchten Wolken auf, die aussahen wie die Bäuche großer, sich am Himmel jagender Haifische. Das Morgengrauen kündigte sich an, und das Leuchtfeuer erlosch. Doch der Sturm hielt an.
    Der Kapitän klopfte an das Barometer.
    «Das wird dauern», sagte er in düsterem Ton und griff sich ans Herz, als fürchtete er um dessen Durchhaltevermögen.
     
    Knud Erik hätte es nie für möglich gehalten, aber man kann sich tatsächlich inmitten von Lebensgefahr unendlich langweilen. Der Sturm hielt an, Tag um Tag. Unablässig hämmerte er auf den Rumpf der Kristina ein, heulte in der Takelage, riss am Ruder und zwang sie in ständiger
Anspannung an Deck. Sie befanden sich in einem Alarmzustand, der dennoch zu einer Betäubung der Nerven führte, zu einem Gefühl der grenzenlosen Leere.
    Das Deck stand permanent unter Wasser. Es sah aus, als würden nur noch Heck und Vordersteven schwimmen, zwei losgerissene Wrackteile, die eine unerklärliche Gesetzmäßigkeit inmitten dieses Chaos aus sich brechenden Wellen und kochendem Schaum in exakt demselben Abstand hielt.
    Knud Erik starrte auf die tief hängenden, sich jagenden Wolken, auf die Wellen in ihrem endlosen Rollen auf eine Küste zu, die unverändert ihre schwarz drohende Barriere errichtete und nicht Land oder Rettung verhieß, sondern das Ende ihres Lebens, wenn sie ihr

Weitere Kostenlose Bücher