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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Bierflasche in der Hand still dasaß. Auch ihm schien das Getränk nicht zu schmecken.
    «Kann man hier nichts anderes trinken?», fragte Knud Erik und versuchte, weltläufig zu erscheinen.
    «Meinst du Limonade?», brüllte Rikard und lachte über seine eigene Bemerkung.
    «Gin» , sagte die Frau. «Give him some gin.»
    Dreymann schaute Knud Erik nachdenklich an.
    «Pass mit Gin auf», warnte er ihn, «der ist genauso stark wie unser Schnaps.»
    «Blödsinn!», schrie Algot. «Sieht aus wie Wasser, schmeckt wie Wasser und hat auch die gleiche Wirkung wie Wasser!»
    Er schob Knud Erik ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit zu.
    «Runter damit!»
    Erleichtert, den bitteren Biergeschmack loszuwerden, nahm Knud Erik einen ordentlichen Schluck. Die anderen sahen ihn abwartend an. Der Geschmack war kräftig, aber ohne Schärfe. Zögernd probierte er noch einen Schluck. Der Gin füllte seinen Mund mit einer wohligen Milde,
doch statt die Kehle hinunterzulaufen, schien er in die entgegengesetzte Richtung, ins Schädelinnere zu fließen. Er hatte das Gefühl, als streichelte jemand seinen Kopf von innen.
    Algot nickte anerkennend. Die Frau lachte ihm zu und spitzte die Lippen wieder zu einem Kussmund. Dann drehte sie sich um und konzentrierte sich auf Algot, der eine Hand unter ihren Rock geschoben hatte.
    Knud Erik spürte ein angenehmes Prickeln in seinem Gehirn. In ihm steckte eine Heiterkeit, die nur darauf wartete, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Er lachte Helmer zu, der zurücklächelte, dankbar für die Aufmerksamkeit.
    «Du solltest den Gin probieren», erklärte Knud Erik abgeklärt, «der ist viel besser als Bier.»
    Helmer schüttelte den Kopf.
    «Ich bin nicht so durstig.»
    «Es geht doch gar nicht darum, durstig zu sein. Es geht darum, besoffen zu werden!»
    Helmer schüttete den Kopf.
    Knud Erik ließ sich nicht beirren.
    «Na, scheißegal. Prost!»
    Er schwang sein Glas und erblickte sich in einem großen goldgerahmten Spiegel. Eine blonde Locke fiel ihm in die Stirn. Seine Augen waren braun. Er hatte sie von seiner Mutter. Vielleicht war er ja wirklich ein pretty boy.
    Die Welt war in Bewegung geraten, aber im Gegensatz zu einem abschüssigen Schiffsdeck war diese Bewegung nicht berechenbar. Der Boden krümmte sich ständig in neuen und überraschenden Winkeln, in denen er in Schieflage geriet, und obwohl Knud Erik rasch lernte, dass der Stuhl der sicherste Aufenthaltsort war, musste er sich doch immer wieder auf den Boden stellen und ein paar unsichere Schritte tun. Es war derart aufgekratzt, dass die Gesellschaft am Tisch ihm nicht reichte. Er musste sich die Tanzenden ansehen, sich ganz sanft zur Musik wiegen, sich am Tisch festhalten, die Arme ausbreiten. Hin und wieder glitt eine Frauenhand über seine Hemdbrust oder streifte seinen Hosenboden. Doch sein Blick sagte ihnen sofort, dass er diesen Weg heute Abend nicht gehen würde. Sie eilten in der sich drängenden Menge mit schwingenden Hüften weiter.

    Er selbst ließ sich freiwillig schubsen und schieben. Der Druck der Umstehenden verhinderte, dass er umfiel, und plötzlich kam ihm der Gedanke, dass Miss Sophie irgendwo dort draußen stand und auf ihn wartete. Er brauchte nur vor die Tür zu treten, dann würde er sie schon finden. Nun drängelte er gezielt. Er erreichte die Tür und verschwand auf der Water Street.
    Er wusste nicht, wie spät es war, doch auf der Straße herrschte noch immer großes Gedränge. Meist waren es Männer, die schwer und unsicher über den Fußweg schwankten oder mitten auf der Straße liefen, auf der wiehernde Pferde und hupende Automobile versuchten, ihnen auszuweichen. Vereinzelt gab es auch Frauen, die sich aus schwarz umrandeten Augen suchend umsahen.
    Knud Erik kam ans Ende der Water Street. Die Menge lichtete sich. Er ging ein Stück zurück und trat in eine Seitengasse. An der Ecke der Duckworth Street fiel sein Blick auf ihren Nacken. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und ging ein Stück vor ihm; sie trug einen langen Wintermantel, darunter ein Paar Stiefel. In der Hand hielt sie eine Tasche. Alles andere mochte falsch sein, doch nicht dieser nackte, entblößte Nacken, der sonnengebräunt aus dem Pelzkragen ihres Wintermantels ragte. Sie war es!
    Er setzte ihr nach, verlor sie jedoch plötzlich aus den Augen. Einen Moment steckte er auf dem Bürgersteig in der Menge fest und wurde gegen eine füllige Frau gedrückt, die versuchte ihm auszuweichen, indem sie auf dieselbe Seite trat wie er. Sie stießen

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