Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Verbrechen – persönlich glaube ich ja, dass sie mit irgendeinem
Seemann durchgebrannt ist. Sie ist ein verrücktes kleines Ding. Ja, ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber sie war nicht ganz richtig im Kopf. Ihre Mutter ist tot, das hat sie dir wahrscheinlich erzählt, und Mr. Smith ist mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, als dass er sich ordentlich um sie hätte kümmern können. Sie bekam ständig ihren Willen, und das ist nie gut für ein Mädchen in ihrem Alter. All dieser Blödsinn, die Jungmänner der Schiffe zum Tee einzuladen, sich dann wie eine Dame anzuziehen und ihnen den Kopf zu verdrehen. Ja, du bist nicht der Einzige gewesen.»
    Bager sah Knud Erik direkt an.
    «Herrgott, du hast dich in sie verknallt. Ja, das mache ich mir zum Vorwurf. Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen. Aber Mr. Smith ist nun einmal unser Verlader, da ist es nicht leicht, Nein zu sagen. Ich dachte, es wäre harmlos. Und nun, schau dir doch an, was passiert ist.»
    Knud Erik sagte noch immer nichts. Nun wusste er, was ihm in seinem Rausch widerfahren war. Aber wusste er es wirklich? Er sah, wie sich Miss Sophies schlanke, mit einem Mantel bekleidete Gestalt den Signal Hill hinaufbewegte, auf dem der Cabot Tower sich als dunkle Silhouette vor der Milchstraße abzeichnete. Er sah ihr Gesicht und die Lippen, die ihm im blassen Sternenschimmer schwarz erschienen, und er fand schließlich die Ursache dieses ohnmächtigen Gefühls, im Stich gelassen worden zu sein, das die letzten Tage an ihm genagt hatte. Er erinnerte sich an seinen wilden Lauf den Signal Hill hinunter und an die stille Stadt, die vom Leichentuch des Raureifs bedeckt war. Er hatte Miss Sophie dort oben unter den kalten Sternen zurückgelassen. Hatte er Schuld an dem weiteren Verlauf, weil er einfach weggerannt war? Aber sie selbst hatte ihn doch fortgeschickt. Hatte mit dem Fuß aufgestampft und ihn einen Hund genannt.
    Alles kam ihm vor wie ein Traum. Durfte er seiner eigenen Erinnerung trauen? Und wenn nun etwas ganz anderes geschehen war? Hatte er sie geschlagen? Er fühlte sich plötzlich unsicher, und sein Blick wurde abwesend.
    «Es tut mir leid», sagte der Kapitän.
    Bager schaute wieder auf den Tisch und klang, als führte er Selbstgespräche.
    «Es tut mir leid, dass du ihr begegnet bist. Ich weiß, das ist meine Schuld.»

    Er sah auf und bemerkte Knud Eriks nach innen gekehrten Blick.
    «Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, Bursche?»
     
    Als Knud Erik an Deck kam, sah er sofort, dass die anderen Bescheid wussten. Die Geschichte musste sich bereits von der Stadt in den Hafen und von dort aus auf die Schiffe verbreitet haben. Sie schauten ihn ernst an und schwiegen. Nur um Rikards Mund zuckte es, als ob er an seinem Vorrat noch nicht ausgesprochener Gemeinheiten innerlich erstickte.
    Was dachten sie über ihn? Verdächtigten sie ihn? Wenn sie die Wahrheit über seine Nacht auf dem Signal Hill kennen würden, was würden sie wohl denken?
    Ja, was dachte er selbst?
    Weiß man denn immer, was man getan hat, wenn man besoffen war?
    In diese Frage verbiss er sich. Er hatte überhaupt keine Erfahrung mit dem Betrunkensein und so wenig Erfahrung mit sich selbst. Es schien ihm, als wäre in der Nacht auf dem Signal Hill irgendetwas Verhängnisvolles geschehen.
    Doch nicht nur deshalb hielt er den Mund. Die ganze Geschichte ging ihm einfach viel zu nah. Er hätte nicht darüber sprechen können, ohne seine Niederlage einzugestehen. Er hatte das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen und ein wenig Klarheit in die Ereignisse auf dem Signal Hill zu bringen, aber sein Überlebensinstinkt versiegelte ihm den Mund. Die anderen würden sofort über ihn herfallen. Das wusste er.
    Knud Erik kroch an diesem Abend in die Koje, ohne mit irgendjemandem ein Wort gewechselt zu haben.
    Die Temperatur lag nun jeden Tag zwölf bis vierzehn Grad unter dem Gefrierpunkt. Morgens bedeckte Schnee das Schiff. Ein Schneeball sauste durch die Luft und zerplatzte, als er die Takelage traf. Sofort brachen Schneeballschlachten zwischen den Schiffen aus, die in St. John’s enger Hafeneinfahrt dicht nebeneinander ankerten.
    Knud Erik nahm nicht daran teil. Er hatte die Hände in den Taschen seiner rauen Moleskinhose und schauderte in der Kälte.

    Vier Tage, nachdem der Frost eingesetzt hatte, liefen sie aus. Ein Schleppboot zog sie durch das «Schwarze Loch». Aus Norden blies ein frischer Wind, und der Polarstrom war mit ihnen. Sie segelten durch dicke Packeisfelder, machten

Weitere Kostenlose Bücher