Wir Ertrunkenen
Augen schloss, damit sie nicht mit gebrochenem Blick zum grauen Dach des Himmels sterben mussten?
Das Eis, das sie mit dem Tod bedrohte, brachte ihnen auch die Rettung. Sie gelangten in Fahrwasser voller Eis. Doch diesmal war es kein Packeis, sondern eine kompakte Eisdecke, die sich im Lauf von nur wenigen Stunden um sie herum schloss und den schweren Rumpf der Kristina halb aus dem Wasser hob. Die Gefahr zu sinken war damit gebannt. Das schwere Holz ächzte unter dem Druck des Eises. Der Rumpf eines Stahlschiffs hätte dieser gewaltigen Kraft nicht standgehalten, sie wären verloren gewesen. Während das Eis mit ihnen spielte, wurde ihnen ein Aufschub gewährt.
So sehr waren sie mit dem Kampf ums Überleben beschäftigt gewesen, dass sie den Horizont völlig aus dem Blick verloren hatten. Nun schauten sie auf und entdeckten weit entfernt ein Schiff, das ebenso wie sie im Eis festsaß. Es handelte sich um einen Schoner, dessen Schäden allen Anschein nach erheblich waren: Der Großmast war gebrochen, und die Takelage hing herunter.
Dreymann nahm ein Fernglas und richtete es auf das havarierte Schiff. Wortlos stand er eine Weile da und versuchte, den Namen am Bug des Schiffs zu entziffern.
«Hol mich der Teufel. Das ist die Ane Marie.»
«Ist noch jemand an Bord?»
Bagers Stimme klang hoffnungsvoll. Knud Erik stand neben ihm. Sein Herz hämmerte, er dachte an Vilhjelm.
«Nicht, soweit ich sehen kann.»
«Lass mich mal.»
Bager griff mit einer ungeduldigen Bewegung zum Fernglas und begann, das Eis abzusuchen.
«Bin ich jetzt völlig verrückt, oder was?», stieß er aus. «Pinguine – die leben doch am Südpol, stimmt’s?»
«Ja», bestätigte Dreymann, «Pinguine bedeuten Südpol. In diesen Breiten gibt es jedenfalls keine Pinguine.»
«Das denke ich auch. Nennt mich verrückt oder wie ihr wollt, aber dort auf dem Eis vor der Ane Marie steht ein Kaiserpinguin.»
Das Fernglas machte die Runde. Es stimmte. Vor dem zerstörten Schoner watschelte ein Kaiserpinguin in der weißen Einöde.
«Er kommt hier rüber», sagte Knud Erik.
Sie drängten sich an der Reling. Der Kaiserpinguin kam langsam näher, mit diesem seltsamen Gang, langsam und schaukelnd, als ob er eine große Last übers Eis zöge.
«Das wird ’ne üble Enttäuschung, kleiner Pinguin», meinte Dreymann. «Das bisschen Essen, das wir haben, brauchen wir selbst. Nicht mal einen Krümel bekommst du ab.»
Knud Erik stand ganz still. Er kniff die Augen zusammen und schien nicht zu hören, was gesagt wurde.
«Das ist kein Pinguin», stellte er fest.
Dreymann hielt erneut das Fernglas an die Augen.
«Der Junge hat recht. Wenn das ein Pinguin ist, dann ist er jedenfalls alt und grau geworden.»
Er kratzte sich unter der Mütze.
«Aber was es ist, wissen die Götter.»
«Pinguine haben eine weiße Brust», erklärte Algot. Er hatte sein Wissen aus dem zoologischen Garten in Kopenhagen.
«Es ist ein Mensch!», rief Knud Erik.
Mit einem Satz war er über der Reling und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Eis. Er rannte auf das merkwürdige Wesen zu, das unbeeindruckt seinen beschwerlichen Weg in Richtung auf das Schiff fortsetzte. Bager brüllte, er solle zurückkommen, doch Knud Erik kümmerte sich nicht darum. Er rannte, so schnell er konnte. Nun sah er, dass der Mann, den sie zunächst für einen Pinguin gehalten hatten, einen Wintermantel trug, der ihm bis zu den Füßen reichte, so dass seine Beine nicht zu erkennen waren. Er musste darunter viele Lagen Kleidung tragen, denn der Mantel hatte sich kaum zuknöpfen lassen. Wie zwei Flügel standen seitlich die Ärmel ab. Um den Kopf hatte er ein Tuch gewickelt, und eine viel zu große Mütze war so weit über eine gefütterte Kappe mit Ohrenschützern gezogen, dass der Schirm beinahe das Gesicht
verbarg. Aus der Ferne hatte der Mützenschirm wie ein Schnabel ausgesehen.
Knud Erik war nun fast bei ihm, und die Person im Mantel machte den Versuch zu winken, was wiederum so wirkte, als würde ein Pinguin mit den Flügeln schlagen.
Dann standen sie sich gegenüber. Bei all der Kleidung ließ sich das Gesicht nicht erkennen. Der andere stand regungslos da, als hätte er einen Schlüssel im Rücken und wartete darauf, dass irgendjemand ihn wieder aufziehen würde. Mit zitternder Hand nahm Knud Erik ihm die Schirmmütze ab. Er wusste nicht, ob es aus Ungeduld oder Angst geschah – was würde er hinter den Lagen von Stoff finden? Ein kleines Gesicht, mit eingefallenen Wangen und tief
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