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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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liegenden Augen tauchte auf. Die Haut war rot geädert vor Kälte und voller großer offener Frostbeulen. Auf dem Kinn wuchs ein feiner Teppich aus Flaum, keine langen männlichen Borsten, aber doch so viel, dass man es einen Bart nennen konnte. Darin hing Raureif, so wie an allen anderen noch lebendigen Körperteilen.
    «Knud Erik», sagte das Gesicht.
    «Du hast ja einen Bart.»
    Knud Eriks Stimme erstickte in Tränen, und er brach in ein lautes Schluchzen aus, das ihn selbst überraschte.
    Vilhjelm lächelte vorsichtig. Seine Lippen waren rissig und überall aufgesprungen. Dann verdrehte er die Augen, und seine pinguinähnliche Gestalt sank aufs Eis.
    Hinter sich hörte Knud Erik Rikard und Algot kommen. Endlich hatten sie ihn eingeholt.
     
    Sie saßen in Bagers Kajüte und starrten den kleinen Menschen an, der eingewickelt in Decken und Federbetten in der Koje lag. Vilhjelm schlief ruhig, das eingefallene Gesicht lag auf dem weißen Kopfkissenbezug. Sie warteten darauf, dass er aufwachte.
    Rikard und Algot waren auf der Ane Marie gewesen. Sie hatten Kapitän Ejvind Hansen und Steuermann Peter Eriksen, die beide aus Marstal stammten, gefunden. Sie lagen in ihren Kajüten und sahen aus, als wären sie im Kältetod eingeschlafen. Von den Matrosen gab es keine Spur; sie gingen davon aus, dass sie über Bord gespült worden waren, bevor
das Schiff im Eis einfror. Der Sturm hatte das Deck leergefegt und Fock-und Großmast über Bord gerissen. Die Besatzung hatte versucht, mit dem Ladebaum, den sie am Stumpen des Fockmasts festzurrten, einen Notmast zu riggen. Unter dem Eis, welches das Deck des halb gekenterten Schiffs einschloss, waren Takelage, Rundhölzer und Segel ineinander verknäuelt. Neben dem Schiff lagen festgefrorene Wrackteile.
    Als Rikard und Algot ihren Bericht erstattet hatten, sagten sie kein Wort mehr. Sie saßen nur da und zitterten, als würden sie frieren, obwohl die enge Kajüte gut geheizt war.
    Sie hatten dem bewusstlosen Vilhjelm sämtliche Kleider ausgezogen. Sie zählten vier Lagen. Er musste an Bord der Kleinste gewesen sein, sonst wäre es nicht möglich gewesen, so viele Schichten übereinanderzuziehen.
    «Was hat er gemacht, wenn er scheißen musste?», fragte Algot.
    «Ich glaube kaum, dass das sein größtes Problem war, eher das Gegenteil: oben etwas reinzubekommen.»
    Dreymann wies auf den ausgehungerten Jungenkörper, dessen hervorstechende Knochen ihre eigene Sprache sprachen.
    «Ihm die Klamotten auszuziehen war genauso, als würde man eine Büchse Sardinen öffnen, um dann festzustellen, dass in der Dose nichts anderes ist als ein Haufen Gräten.»
    Sie hatten den nackten Körper mit Rum eingerieben, ihm dann saubere Sachen angezogen, in eine Decke gewickelt und in die Koje gelegt. Bei der Wache wechselten sie sich ab. Vilhjelm schlief anderthalb Tage. Knud Erik saß die ganze Zeit an seiner Seite, Bager gestattete es ihm. Rikard und Algot gingen nach vorn ins Mannschaftslogis, um zu schlafen. Bager und Dreymann schliefen abwechselnd in der Kajüte des Steuermanns. Die Regeln galten nicht mehr. Die Kälte schmiedete sie zusammen, und die Silhouette der zerstörten Ane Marie, die sich gegen den grauen Himmel abzeichnete, erinnerte sie unablässig an das Schicksal, das auf sie wartete, wenn das Glück ihnen nicht hold war.
     
    Mitten in der Nacht schlug Vilhjelm die Augen auf. Das einzige Licht in der Kajüte kam von der Petroleumlampe, die festgebolzt am Schott hing.
    «Ich habe Hunger», sagte er nur. Er klang wie ein kleines Kind.

    Bager, der neben Knud Erik auf dem Sofa saß und eingenickt war, fuhr hoch.
    «Zum Teufel auch», sagte er schlaftrunken, «der Bengel des Sandgräbers ist aufgewacht.»
    Er ging mit der Rumflasche in der Hand zur Koje, legte eine Hand unter Vilhjelms Kopf und setzte ihm die Flasche an die Lippen.
    «So, Junge, jetzt nimm erst mal einen Schluck. Das bringt dich auf die Beine.»
    Vilhjelm trank, begann aber sofort zu spucken, als der scharfe Geschmack des unverdünnten Rums seinen Mund füllte.
    Bager richtete sich auf.
    «Dreymann!», brüllte er, so dass es auf dem ganzen Achterschiff zu hören war. «Der Bursche ist wach. Es gibt Rinderbraten.»
    Der Steuermann stolperte in die Kajüte.
    «Wird gemacht, Kapitän.»
    Er stand in Habtachtstellung und salutierte im Scherz.
    «Dreymann wird dir jetzt einen Sonntagsbraten machen, den du nie vergessen wirst.»
    Er zwinkerte Vilhjelm zu, der schwach zurücklächelte.
    «Aber ich denke, wir sollten dem

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