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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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verschwunden. Eine dünne Schicht Raureif bedeckte die Straße und unterstrich mit ihrem kalten Schimmer die unnatürliche Stille, die sich über die zuvor so lärmende Hafenzeile gelegt hatte. Auch den Wald aus Masten an den Kais hatte der Raureif versilbert, wie einen Gespensterwald, den ein Brand in weiße Asche verwandelt hatte und der nur darauf wartete zu zerfallen.

    Knud Erik fand die Kristina und stolperte die Leiter hinunter ins Logis, wo ihn schließlich der Rausch überwältigte. Ihm war schwindelig, als er in seine Koje rollte, wo ihm sofort die Augen zufielen.
     
    Am nächsten Morgen weckte ihn Rikards Fluchen.
    «Wo, zum Teufel, bist du gewesen, Bursche? Du kannst doch nicht einfach so abhauen.»
    Aber ihr Grinsen verriet ihm, dass sie zu betrunken gewesen waren, um sich ernsthaft Sorgen um ihn zu machen. Er erinnerte sich an den Mahlstrom von Menschen im Wirtshaus. Von der Verfolgung Miss Sophies durch St. John’s gab es nur vage Bruchstücke in seiner Erinnerung. Dasselbe galt für die Begegnung auf dem Signal Hill, die sich auf der anderen Seite der Tür zwischen Traum und Wirklichkeit abgespielt zu haben schien.
    Ein Gefühl der Zurückweisung schwelte noch in ihm. Er erinnerte sich verschwommen, dass sich plötzlich ein Abgrund aufgetan hatte, aber die Ursache dieses schwindelerregenden Erlebnisses ließ sich nicht rekonstruieren.
    Es arbeitete in seinem Kopf, aber er kam damit nicht weiter.
     
    Die Kälte war hereingebrochen. Es herrschten zehn Grad Frost, und auf dem Wasser des Hafens bildete sich bereits eine dünne Haut aus Eis.
    Am Nachmittag erschien der Kapitän bei ihm. Knud Erik hatte eine Standpauke erwartet, doch Bager bat ihn stattdessen, ihn am nächsten Tag in die Stadt zu begleiten.
    «Such dir einen sauberen Sack», sagte er, «wir werden morgen zum Schlachter in die Queen’s Road gehen und frisches Fleisch kaufen.»
    Als sie am nächsten Tag zusammen durch die Stadt gingen, beobachteten sie, wie die Leute in kleinen Gruppen auf der Straße standen und sich unterhielten. Eine merkwürdig elektrisch aufgeladene Atmosphäre lag über den Straßen, eine Unruhe, die eilige Fußgänger plötzlich stehen bleiben und mit wildfremden Menschen reden ließ, bis sie sich wieder losrissen, um nur einen Moment später bei der nächsten Gruppe aufgeregt diskutierender Menschen hängen zu bleiben.
    Bager, der ein wenig Englisch verstand, fragte den Schlachter, was denn los sei? Der Mann war ein mit einer blutbespritzten Gummischürze
bekleideter Hüne, der sich auf einem weiß gescheuerten Hackklotz den Weg durch Berge von rotem Fleisch bahnte. Er ließ sich viel Zeit mit der Antwort. Hin und wieder legte er das Hackmesser beiseite und breitete die Arme aus, während er traurig seinen rot geäderten Kopf schüttelte. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Das Schlachtermesser drang tief ins Holz ein.
    Knud Erik verstand die Worte nicht, aber er hörte den Namen von Mr. Smith.
    Bagers Gesicht verdüsterte sich, und er warf einen Blick auf Knud Erik.
    «Ich wusste es», murmelte er, «ich habe es ja immer gesagt. Es endet nicht gut mit dieser Göre. Aber traurig ist es schon.»
    «Was hat er gesagt?», erkundigte sich Knud Erik, als sie den Metzgerladen verließen.
    Bager antwortete nicht, sondern schritt schneller aus, so dass er schon bald ein Stück vorweg lief. Den ganzen Weg bis zum Hafen wechselten sie kein Wort, und der Kapitän hielt auch weiterhin Abstand zu ihm.
    Das Blut sickerte durch den Sack und hinterließ große dunkle Flecken auf dem grauen Sackleinen. Knud Erik hatte das Gefühl, als würde er von den Leuten angestarrt; ihn durchfuhr der Gedanke, dass er aussehen musste wie ein Mörder, der am helllichten Tag die Reste seines zerstückelten Opfers durch die Stadt trug.
    Als sie an Bord kamen, forderte Bager ihn auf, ihm in die Kajüte zu folgen.
    «Setz dich», sagte er und ließ sich ihm gegenüber nieder. Bager beugte sich vor und faltete die Hände auf dem Tisch vor sich.
    «Miss Sophie», begann er und brach ab. Er starrte auf die Tischplatte und seufzte tief. «Miss Sophie …», wiederholte er dann, «… ist verschwunden.»
    Er schlug hart mit der Hand auf den Tisch.
    «Zum Teufel aber auch!»
    Knud Erik verschlug es die Sprache. Ihm wurde nicht schwarz vor Augen, nur in seinem Kopf wurde es tiefdunkle Nacht. Sehen konnte er alles messerscharf, doch keinen Gedanken fassen.
    «Sie ist bereits seit zwei Tagen fort. Niemand weiß, wo sie steckt. Ein Unglück, ein

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