Wir Ertrunkenen
nichts. Er hielt die Wartezeit nicht aus und
schaute auf. Sie stand ihm noch immer gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck war unverändert, als hätte sie nicht gehört, was er gesagt hatte.
Was dann passierte, überraschte ihn vollkommen. Sie trat einen Schritt vor und senkte den Kopf. Ihre Stirn lag an seiner Schulter, und sie begann zu schluchzen. Ein paar Sekunden stand er wie gelähmt da, die Arme hingen ihm herunter. Dann umarmte er sie, wobei er sich langsam im Takt des Schiffs bewegte, damit sie nicht das Gleichgewicht verloren und aufs nasse Deck fielen. Sämtliche Schleusen in ihm öffneten sich gleichzeitig. Die Unsicherheit, in deren Griff er sich noch einen Augenblick zuvor befunden hatte, verwandelte sich in ein Gefühl des Triumphs, das in ihm aufstieg wie ein Geysir.
So standen sie eine Weile da. Er hätte für immer so verweilen können. Er spürte seine eigene Stärke. Der leichte Druck ihrer Stirn an seiner Schulter ließ nicht nach. Er strich ihr über das nasse, verfilzte Haar, während er unablässig tröstende, sinnlose Worte murmelte. Plötzlich gab es ein Band zwischen ihnen, und er wusste nicht, wie es zustande gekommen war. Aber es existierte. Er spürte dessen Kraft und beantwortete es mit einem Ausbruch plötzlicher Fürsorge. Als hielte er ein Kind in seinen Armen.
«Kommen Sie», sagte er, «Sie müssen hingehen und sich Ihren Vater ansehen.»
Er begleitete Fräulein Kristina zur Kajütentür und öffnete sie für sie.
«Ich glaube, es ist am besten, wenn Sie ein wenig allein mit ihm sind», sagte er rücksichtsvoll.
Dann löste er Vilhjelm am Ruder ab.
Er befahl, mehr Segel zu setzen. Er segelte hart. Das Schiff krängte unter dem Druck des Windes, so dass die Reling beinahe auf Höhe des Wassers lag. Er bemerkte, dass die Jungen beunruhigt dreinschauten, aber keiner sagte etwas. Er rief sie zu sich.
«Bager ist tot. Ich bin jetzt der Kapitän.»
Dann stand er wieder allein am Ruder. Durch das Ruder spürte er die Kraft des Meeres bis in seine Hände. Die Fürsorge, die er empfunden hatte, wurde mehr und mehr zur Gewissheit. Sie war sein. Es war unwiderruflich.
Er dachte an den toten Mann in der Kajüte. Am liebsten hätte er die Leiche in ein Segeltuch gepackt und ohne allzu viel Umstände über Bord befördert. Aber er sah ein, dass das nicht möglich war. Saint Malo war nicht der nahegelegenste Hafen, aber wenn der Wind anhielt und er weiterhin so riskant segelte, würden sie ihn in zwei Tagen erreichen. Bager musste natürlich aus der Kajüte geschafft werden, denn Fräulein Kristina konnte schließlich nicht bei ihrem toten Vater schlafen. Das Mannschaftslogis bot da eine Möglichkeit. Dort war ja eine Koje frei.
Ihm entfuhr ein Lachen. Das würde ihnen recht geschehen, diesen beiden Rotzbengeln. Sie durften zusammen mit einer Leiche nächtigen.
Herman blieb den Rest des Tages am Ruder. Er hatte keine Lust, sich irgendwo anders aufzuhalten. Das Schiff gehörte ihm. Er segelte mit einem toten Kapitän und einer Frau, die in der Kajüte auf ihn wartete, über das Meer. Er summte den alten Shanty von dem besoffenen Seemann, der mit der Tochter des Kapitäns in der Kajüte landet.
Ja, es war ein Traum. «Put him in the bed to the captn’s daughter.» Und nun war er für ihn in Erfüllung gegangen.
Am Abend brachte er Fräulein Kristina einen Teller Suppe. Es war dunkel in der Kajüte. Er nahm ein Streichholz und zündete die am Schott festgeschraubt Petroleumlampe an.
«Sie müssen essen», sagte er und reichte ihr den Teller.
Sie führte gehorsam den Löffel zum Mund. Herman blieb stehen und wartete still, bis sie fertig war. Dann nahm er den Teller mit in die Kombüse.
Um Mitternacht stand er noch immer am Ruder. Es waren jetzt drei Wachen hintereinander. Nun begann die Hundewache. Herman band das Ruder fest und ging zum Mannschaftslogis. Er kletterte die Leiter hinunter und weckte Vilhjelm. Der Junge taumelte aus der Koje, er hatte in seinen Sachen geschlafen. In der Hand hielt er das Löwenmesser, das er zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte. Aus der anderen Koje sprang Knud Erik auf den Boden. Auch er war bewaffnet.
Die Kristina segelte noch immer hart am Wind, und es dröhnte im Logis, wenn das Vorschiff auf eine See traf. Herman warf einen Blick auf die Messer und schüttelte den Kopf.
«Da habt ihr ja ein paar schöne Nagelreiniger», sagte er in einem umgänglichen
Ton. «Steckt sie lieber in den Gürtel. Sonst könnte ich noch auf die Idee kommen,
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