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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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dass ihr Meuterer seid.»
    Er sah, dass sie bei jedem Wort, das er sagte, zusammenzuckten. Sie waren kurz davor, vor Angst in Tränen auszubrechen.
    Er teilte Vilhjelm den Kurs mit und kletterte die Leiter wieder empor. Dann überquerte Herman das Deck und streckte die Hand aus nach der Türklinke der Kapitänskajüte. Die Tür war unverschlossen, und einen Augenblick später stand er auf den krängenden Dielen in der Dunkelheit. Er lauschte. Er konnte Fräulein Kristinas Atemzüge nicht hören, doch er wusste, dass er nun handeln musste. Es war eine Gewissheit, die dort oben bei Dunkelheit und Sturm in ihm gewachsen war.
    Herman streckte die Hand in die Koje. Er tastete über die Bettdecke und berührte ihr Haar. Sie musste mit dem Rücken zu ihm liegen. Diesem Rücken, von dem er geträumt hatte. Er strich ihr übers Haar, das vom Salzwasser steif war. Sie reagierte nicht. Er war überzeugt, dass sie schlief. Er ließ die Hand weiterwandern, über ihren Nacken, der sich warm und weich anfühlte. Seine große Hand umschloss ihn. Er spürte die zarten Halswirbel, Zärtlichkeit erfüllte ihn. Noch immer keine Reaktion von ihr. Er konnte sie nicht atmen hören, und er musste seinen Drang beherrschen, ihren Puls zu fühlen. Schlief sie noch? Hielt sie vor Angst den Atem an? Nein, er war sicher, sie wartete auf ihn. Das sagte ihm ihr ganzer Körper. Er schlug die Decke zur Seite. Dann packte er ihr Nachthemd und zog es bis zu den Schultern hoch.
    Er zögerte einen Moment.
    Ich kenne sie nicht, dachte er, vielleicht ist sie stärker als ich.
    Eine plötzliche Angst erfasste ihn. Dann knöpfte er seine Hose auf und legte sich zu ihr in die Koje. Er sagte nichts, fühlte sich unbeholfen, so bekleidet. Er hätte sich erst ausziehen sollen. Jetzt war es zu spät. Herman legte einen Arm um sie und presste sich an ihren Körper. Der Wollpullover musste an ihrer nackten Haut kratzen. Er spürte, dass er in diesem Augenblick ihre Wehrlosigkeit ausnutzte, statt sie zu beschützen. Der Kontakt mit ihr ließ sein Glied hart werden, doch die Hitze wich aus seinem Kopf, und zurück blieb kühle Nüchternheit. Er sah sich, als würde er neben sich stehen, und die Selbstbetrachtung ließ ihn unsicher werden. Seine Erektion hielt an. Es war wie bei einem Tier. Er reagierte nur auf die Wärme eines anderen Körpers und suchte blind nach einer
Erlösung. Noch immer sah er sich gleichsam von außen: einen großen, massigen Mann, der sich in Seemannsstiefeln und Pullover mit einer passiven Frau in einer engen Koje wälzte.
    Plötzlich bewegte sie sich. Sie murmelte schlaftrunken etwas vor sich hin und versuchte, sich in der Koje umzudrehen. Instinktiv verstärkte er seinen Griff in ihrem Nacken und presste ihr Gesicht in die Koje. Sie schrie, aber der Schrei wurde durch das Kissen erstickt. Protestierend verspannte sich ihr Körper, sie schlug mit den Armen um sich.
    Es war ein Seufzen zu hören, als er in sie eindrang, aber es war nur Luft, die entwich, als hätte jemand in ihrem Inneren etwas verschoben. Es kam ihm vor, als wäre es ein Seufzen ohne Gefühl gewesen, das Geräusch sich entleerender Lungen, wie bei einem Sterbenden, der nach einer langen Zeit der Bewusstlosigkeit schließlich seinen letzten Atemzug tat. Sie wurde ganz still, als hätte er sie mit einem Spieß durchbohrt.
    Er hielt inne und lauschte angespannt, um zu hören, ob sie noch atmete. Dann kam er bereits, in einer unfreiwilligen Kapitulation, die ihm das Gefühl gab, unerwartet auf einen Abgrund zugetreten zu sein und plötzlich in die Tiefe zu stürzen. Seine Hüften zuckten noch lange danach. Sie lag weiter regungslos da. Er drückte die passive Frau an sich. Unzählig viele Worte schossen ihm durch den Kopf. Er wollte mit ihr reden, aber nicht ein Ton kam über seine Lippen. Für ihn war sie Fräulein Kristina. Aber das konnte er doch nicht in diesem Augenblick sagen, in dem er sich mit ihr vereint hatte. Mitten in seinen Überlegungen schlief er ein.
    Er erwachte, vielleicht war es nur einige Sekunden später, als sie sich plötzlich aus seinem Arm wand. Noch bevor er reagieren konnte, hatte sie sich aufgesetzt und nach ihm getreten. Herman flog aus der schmalen Koje und landete schwer auf den Kajütendielen. Er kam auf die Beine und versuchte, die Hose zu schließen. Um seinen Hosenschlitz war es feucht.
    Sie schrie und schrie.
    Er empfand nichts, außer einem Unbehagen über ihre Schreierei, die die ganze Kajüte erfüllte und ihn mit einem nahezu physischen

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