Wir Ertrunkenen
der auch sie stammten, einen Mord begangen habe, für den er offenbar nie bestraft worden war. Der Steuermann hatte das Schiff am frühen Morgen jenes Tages verlassen, an dem Monsieur Clubin an Bord kam, und zu seiner Flucht das Beiboot benutzt.
Die Polizei sah nach einem gründlichen Verhör keinerlei Anlass, Anklage gegen den verschwundenen Steuermann zu erheben. Es fanden sich keine Zeichen von Gewaltanwendung an der Leiche des Kapitäns, und eine anschließende Obduktion bestätigte, dass er an den Folgen eines Herzversagens gestorben war. Die näheren Umstände des Todes eines Matrosen waren nicht eindeutig genug, um eine Anklage zu erheben, sein Tod wurde nicht weiter verfolgt. Auch bei dem späteren Seeverhör in Kopenhagen wurde Ivars Tod als eine Art unverschuldetes Unglück gewertet, das auf einem Schiff geschehen kann, obwohl eingeräumt werden musste, dass das Verschwinden des Steuermanns Anlass für die unterschiedlichsten Verdachtsmomente gab. Nur konnte nichts bewiesen werden.
Letzten Endes lag es an der mangelnden Urteilskraft des Kapitäns, der einen berüchtigten Mann ohne die erforderlichen Papiere als Steuermann angeheuert hatte, durch die diese unglückliche Kettenreaktion von Ereignissen ausgelöst wurde, an deren Ende die Kristina aus Marstal vor dem Pointe de Grave trieb.
Auch der behauptete Überfall auf die junge Frau führte nicht zu einer Anklage. Dies lag vor allem an ihrem beharrlichen Schweigen sowie an der unpräzisen Beschreibung der Art des Überfalls durch die Jungen.
Der Kapitän wurde auf dem Friedhof von Royan begraben. Da die örtliche Zeitung Le Dépêche du Quest über das Unglücksschiff, «le navire maudit», geschrieben hatte, erschien eine Reihe von Neugierigen auf der Beerdigung.
Auch Monsieur Clubins massige Gestalt saß unter den Trauernden, allerdings nahm er eher aus Pflichtgefühl an dem Begräbnis teil. Schließlich hatte er das Schiff gerettet und sicher in den Hafen gebracht und sich der jungen Besatzungsmitglieder angenommen, die in seinen Augen nichts anderes als Kinder waren. Sie wurden in sein Haus eingeladen, und Madame Clubin hatte der jungen Frau ein Zimmer zur Verfügung gestellt und außerdem dafür gesorgt, dass Fräulein Kristina zur Beerdigung mit einem schwarzen Hut und dem dazugehörigen Schleier passend angezogen war.
Die junge Frau ließ alles mit sich geschehen, als wäre sie in den hilfsbereiten Händen der Lotsengattin auf den Status einer Anziehpuppe reduziert. Sie ließ keinerlei Anzeichen von Dankbarkeit erkennen, ebenso wie keinerlei Ausdruck von Trauer in der blassen, erstarrten Maske
zu sehen war, zu der ihr Gesicht nach der Ankunft in Royan geworden war. Madame Clubin war erfahren genug, um Äußerlichkeiten nicht allzu hoch zu bewerten; also versuchte sie auch gar nicht, ihrem jungen, so hart geprüften Gast irgendeine Gefühlsäußerung zu entlocken. Nur bei den Mahlzeiten war sie entschieden. Madame Clubin kam aus dem französischen Teil des Baskenlandes, und mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, befahl sie ihrem Gast jeden Tag, die Teller mit ttoro, gabure, cannot und couston leer zu essen, die sie ihr vorsetzte. Die junge Frau gehorchte, ohne dass sie sich für die Mahlzeit bedankte oder mit irgendeinem Wort äußerte, ob es ihr geschmeckt habe. Aber sie aß auf, und Madame Clubin teilte – wie so häufig zuvor – ihrem Mann als Summe ihrer Lebenserfahrung mit, dass alle Unglücklichen vor allem eines brauchten: mütterliche Fürsorge und gutes Essen.
Einer der jungen Männer blieb auf Anordnung der dänischen Reederei an Bord der Kristina, wo er die Ankunft einer neuen Besatzung abwartete. Die beiden anderen verließen Royan zusammen mit der jungen Frau, die bis zuletzt ihr Schweigen nicht brach.
Als sie in den Zug stieg, trugen ihre beiden Begleiter mit einer geradezu rührend brüderlichen Fürsorge ihre Koffer und Taschen. Sie selbst kam lediglich mit einen Seesack, der dem Vernehmen nach dem ertrunkenen Matrosen gehört hatte.
Kristina saß im Wohnzimmer und wartete, als Klara Friis nach Hause kam. Klara kannte ihre Geschichte gut. Wir alle kannten sie. Vilhjelm und Helmer hatten gesagt, sie sei von Herman überfallen worden, aber jeder konnte sich ja seinen Teil denken. Natürlich hatte Herman sich an ihr vergriffen. Darin waren wir uns alle einig. Jedes Mal, wenn einer der Jungen das Wort «Überfall» sagte, nickten wir besserwisserisch auf eine Weise, die sie mehr als nur irritierte. Natürlich
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