Wir Ertrunkenen
wussten sie genau, was geschehen war. Jungen wissen so etwas. Aber sie hatten ihr Wort mit Bedacht gewählt. Sie wollten Kristina beschützen.
Wir nannten Kristina Bager «den armen Wurm», aber dass sie in mehrfacher Hinsicht ein armer Wurm war, erfuhr Klara als Erste.
Kristina erhob sich vom Sofa und starrte sie an. Sie sagte nichts. Seit ihrer Heimkehr hatte sie nichts gesagt. Dann deutete sie mit einer Hand auf ihren Bauch, während sie mit der anderen vor ihrem Bauch einen Bogen in der Luft beschrieb. Klara verstand die Zeichensprache der Stummen gut, und nicht nur ihr Herz, auch ihre Augen flossen über vor Mitleid. Sie fühlte sich so hilflos. Der arme Wurm war nicht nur vergewaltigt worden, sie ging auch noch schwanger mit dem Kind des Gewalttäters. Etwas Schlimmeres war kaum vorstellbar, aber ob Geld in einer derartigen Situation eine Hilfe sein konnte, mochte Klara nicht entscheiden. Sie ging davon aus, dass das Mädchen wegen Geld gekommen war.
Sofort ergriff sie die Hand der jungen Frau und bat sie, ihr zu folgen. Sie gingen hinüber in die Teglgade zur Witwe Rasmussen. Anna Egidia ließ Kristina auf dem Sofa Platz nehmen. Sie servierte Kaffee und stellte ihr eine Schale mit selbstgebackenen Keksen hin, wobei sie ein Summen von sich gab, das ebenso wie ihre gemächlichen, alltäglichen Verrichtungen darauf abzielte, den notleidenden Gast zu beruhigen; ein Ritual, das Klara schon oft beobachtet hatte und das stets erfolgreich zu sein schien. Anna Egidia legte ihre Hand auf den Bauch des Mädchens und streichelte darüber, und als hätte sie mit ihrer Berührung irgendeine Vorrichtung in dem Mädchen aktiviert, öffnete Kristina den Mund und begann zum ersten Mal seit vielen Wochen zu sprechen.
«Ich will nach Amerika», sagte sie.
Die beiden Frauen schauten einander an.
«Ich will das Kind nicht hier in Marstal bekommen», fuhr Kristina fort, «und ich will auch nicht fortgeschickt werden, um heimlich zu gebären und das Kind dann zur Adoption freizugeben. Ich will nach Amerika und mit meinem Sohn ein neues Leben beginnen.»
«Mit deinem Sohn?», fragte Klara verblüfft.
Aber Anna Egidia, die in Herzensdingen klüger war als Klara, fragte nicht, warum Kristina annahm, dass das Kind ein Junge würde. Sie hörte stattdessen die Zärtlichkeit in ihrer Stimme, als sie über das ungeborene Kind sprach, und verstand sofort, dass diese Zärtlichkeit andere Ursachen haben musste und nicht das Resultat einer Vergewaltigung war.
«Dann ist Herman also nicht der Vater des Kindes?», fragte sie.
Kristina schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht leuchtete in einem plötzlichen Glück auf, das bald wieder der Trauer wich, die sie hinter ihrem
Schweigen und der erstarrten Miene verbarg. Sie begann zu weinen, und die beiden Frauen setzten sich zu ihr und umarmten sie.
Der Vater, so erzählte sie, war Ivar, ein Matrose, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, ja, mehr als nur ihr Herz. Sie hatte ihm ihre Tugend geschenkt, die natürliche Begleiterin des Herzens, die aber angesichts von großer und wahrer Liebe nicht wert ist, aufrechterhalten zu werden, denn er war der hübscheste Mann, dem sie je begegnet war, der schönste und klügste und überhaupt nicht wie dieses Tier, dieses herzlose Schwein von Herman, dieses Ungeheuer, der den besten Mann der Welt ermordet hatte.
«Meinen Mann», sagte sie, «er war mein lieber, lieber Mann. Wir wollten heiraten. Das weiß ich. Es gab niemanden sonst auf der Welt für mich.»
Sie begriffen, dass sie nicht von einer Tatsache, sondern von einer Hoffnung sprach, als sie Ivar als Vater ihres Kindes angab.
«Amerika ist keine schlechte Idee», meinte Klara.
Anna Egidia nickte. Eine ihrer Töchter war dort während des Krieges gewesen. Anna Egidia sprach mit Kristinas Mutter. Klara beschaffte ein Billett für das Schiff nach Amerika und arrangierte, dass sie in New York in Empfang genommen wurde. Nun konnte man nur noch auf das Kind warten. Wem würde es ähnlich sehen, wenn es den Kopf in die Welt streckte? Entweder kam es mit dem Muttermal des Verbrechens im Gesicht auf die Welt oder mit dem Beweis der Liebe.
Am Telefon aus New York war eine freudestrahlende, jubelnde frischgebackene Mutter.
«Wenn es ein Junge wäre, hätte er Ivar heißen sollen», sagte Kristina. «Aber es ist ein Mädchen, und darum wird sie Klara heißen. Muss ich noch mehr sagen?»
Ein kleines Gesicht, noch zu klein, um zu lächeln, aber nicht zu klein, um ein Zeugnis seiner Herkunft zu tragen; es
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