Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Navigationsschule
in der Tordenskjoldsgade sein Steuermannspatent zu machen. Als er ihr einen Besuch abstatten wollte, sah sie ihn von ihrem Erker aus kommen und gab ihrem Dienstmädchen sofort die Anweisung, ihn abzuweisen.
    «Sag ihm, er sei tot», befahl sie.
    «Das werde ich nicht sagen», erwiderte das Mädchen.
    «Tu es!», schrie Klara sie unbeherrscht an.
    Das Mädchen öffnete die Tür. Doch statt in der Türöffnung stehen zu bleiben und den Bescheid von Klara weiterzugeben, trat sie auf die oberste Treppenstufe und schloss die Tür hinter sich.
    «Sie will Sie nicht sehen», sagte sie. «Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie sollten es lieber ein andermal versuchen, wenn sie bessere Laune hat.»
    Vom Erker aus beobachtete Klara ihren toten Sohn, als er zurück zum Hafen ging.
     
    War sie ein guter Mensch? Oder ein schlechter? War sie ein Mensch, der das Gute wollte, stattdessen aber das Gegenteil erreichte.
    Diese Fragen hatte sie sich in ihren durchwachten Nächten gestellt, als sie an Knud Eriks Tod glaubte und ihre Schuld spürte. Ihr waren Zweifel gekommen, und die einzige Möglichkeit, sie zu betäuben, war, Knud Erik ganz aus ihrem Leben zu verbannen.
     
    Klara hatte ein Kinderheim gebaut. Aus der Schule hörte sie, dass die Kinder zu den Besten der Klasse gehörten und vor Selbstvertrauen strotzten. Das war sehr gut. Sie hatte der Stadt eine Bibliothek geschenkt und die finanziellen Voraussetzungen für das Seefahrtsmuseum geschaffen. Sie hatte es nicht einmal in ihrem eigenen Namen getan. Sie spendete für das Ostseeheim, das große Altersheim, das im Süden der Stadt lag; von dort konnte man über die Strandwiesen und die Badehäuser auf dem langen Schwanz der Insel schauen. Sie gab Geld für den Ankauf von Gerätschaften im Krankenhaus des Nachbarorts Ærøskøbing.
    Kristina war nicht das einzige junge Mädchen, dem sie das Reisegeld nach Amerika vorgestreckt hatte. Manchmal dachte sie, sie sollte alle Frauen der Stadt über den Atlantik schicken, damit die Männer spürten, wie so etwas war. Sie hielt Kontakt zu den Lehrern in der Schule, und zeigte ein Mädchen Begabung fürs Gymnasium, schaltete sie sich
ein und bezahlte für eine Schule außerhalb der Insel. Diese Zukunft hatte sie auch für Edith vorgesehen. Sie wollte die Frauen selbständiger machen. Sie mussten mithelfen, ein Gegengewicht zur Tyrannei des Meeres zu schaffen.
    Marstals Straßen kreuzten sich, aber Hauptstraßen waren immer die Straßen gewesen, die auf den Hafen und das Meer zuliefen. Dann war die Kirkestræde mit ihren Geschäften dazugekommen, in denen die Frauen ein- und ausgingen. Für die Frauen, für ihr Leben wollte Klara eine neue Stadt auf den Ruinen der alten bauen. Das Kinderheim, das Altersheim, die Bibliothek, das Museum. Frauen, die die Insel verließen und stärker und klüger heimkehrten – es war erst der Anfang.
    Es war eine geheime Verschwörung, und sie stand an ihrer Spitze.

    «Nun hast du deine große Chance», sagte Markussen in seiner trockenen, unbeeindruckten Art. «Krieg in Asien, Bürgerkrieg in Spanien, Missernten in Europa. Es sind herrliche Zeiten. Jetzt steigen die Frachtraten wieder.»
    Er sah Klara prüfend an, mit diesem Blick, den sie nie ganz hatte ergründen können und der ihr bisweilen ein gleichermaßen sicheres wie unsicheres Gefühl gab. Er kümmerte sich um sie, daran gab es keinen Zweifel. Nicht einer seiner Ratschläge in all den Jahren war schlecht gewesen.
    Er hatte sie erzogen, und sie war eine gelehrige Schülerin gewesen, und jedes Mal, wenn sie eine richtige Entscheidung traf, hatte sie diesen anerkennenden Blick erhalten, der sie ahnen ließ, dass sie ihre Möglichkeiten noch nicht ausgereizt hatte. Aber auf dem Grund seines Blicks gab es auch eine kühle Neugier. Sie vermutete, dass es ihn nicht sonderlich berühren würde, wenn sie einen Fehler beging und sich zugrunde richtete. Er würde ihren Fall beobachten, als wäre er nur ein weiteres Kapitel in dem endlosen Lehrbuch, das das Leben für ihn bedeutete. Möglicherweise würde er sich sogar von dem neuen Wissen bereichert fühlen, das das Studium ihres Untergangs ihm vermittelte.
    Es war ein Balanceakt. Er war wie ein Vater für sie. Sie hatte niemals
einen Vater gehabt und sich immer danach gesehnt, aber da sie ihre Sehnsucht niemals an einem realen Menschen hatte erproben können, wusste sie auch nichts von den Grenzen eines Vaters. Erst jetzt lernte sie diese Grenzen kennen. Doch, er war ein Fels, auf

Weitere Kostenlose Bücher