Wir Ertrunkenen
vierundsechzig verschwundenen Besatzungsmitgliedern
veröffentlicht wurde, war Knud Erik nicht darunter. Er hatte stattdessen auf einem ihrer eigenen Schiffe, der Bark Claudia, angemustert. Oft hatte er Klara um Erlaubnis gebeten, aber sie hatte jedes Mal abgelehnt. Allerdings hatte sie die Besatzungsliste der Claudia auch nicht kontrolliert, und so wurde Knud Erik hinter ihrem Rücken vom Kapitän angeheuert.
In den furchtbaren Tagen und Nächten, in denen sie glaubte, er sei mit der København untergegangen, rief sie sich wieder und wieder das letzte Gespräch ins Gedächtnis, das sie miteinander geführt hatten. Knud Erik hatte sie gefragt, ob er auf der Claudia anmustern dürfe. Es war eines der wenigen Male, in denen er ihr eine gewisse Vertraulichkeit entgegenbrachte, und sie hatte ihn abgewiesen. Und nun war er tot. Sie hatte ihn mit ihrem Starrsinn in den Tod geschickt.
«Weißt du», hatte er zu ihr gesagt, «dass die Barken, die du von Albert geerbt hast, die letzten großen Segelschiffe auf der Welt sind?»
Sie waren nicht nur die letzten, sie waren auch die schönsten, der Schwanengesang einer ganzen Ära. Unter dünnen Sommersegeln fuhren sie mit der Nordostpassage über den Atlantik nach Westindien, um Farbhölzer zu transportieren. Einmal im Leben musste ein Seemann dieses Erlebnis gehabt haben: Unter den weißen Türmen der Segel stehen, unter glühend heißer Sonne im günstigen Wind des Passats zwanzig Meter hoch auf der Nock der Großrah sitzen und die ganze Welt besitzen.
Knud Eriks Augen hatten aufgeleuchtet. Er hatte sie in sich hineinsehen lassen.
Er war jetzt ein Mann. Langgliedrig, doch das Schlaksige hatte sich verloren. Muskulös, aufrechte Haltung. Sie konnte Henning in ihm erkennen. Das hatte sie schon immer gekonnt. Aber nun sah sie noch mehr, etwas Besseres und Stärkeres.
«Nein», hatte sie nur gesagt.
Als er nach dem Untergang der København nicht auf der Liste der Ertrunkenen gestanden hatte, wusste sie nicht, ob er überhaupt ums Leben gekommen war. Wo befand er sich? Sie war an der Werkstatt des Totensammlers vorbeigekommen und hatte nicht gewagt hineinzusehen. Was hätte sie getan, wenn er in diesem Moment dagesessen und ihren ertrunkenen Jungen aus Holz geschnitzt hätte?
Es waren Nächte gewesen, in denen sie rastlos in den Zimmern auf und ab ging und sich selbst, ihre Einsamkeit und den Verlust beklagte, an dem sie sich so schrecklich schuldig fühlte. Edith hatte mit einem Kissen über dem Kopf in ihrem Zimmer gelegen. Auch sie hatte ihren Bruder beweint, beide glaubten, dass er ertrunken sei. Aber Edith hatte auch Angst um die Mutter, als sie hörte, wie hemmungslos sie sich ihrer Trauer hingab.
Die Passanten, die auf der Straße vorbeigingen, hielten Klara nicht für wahnsinnig. Wir wussten genau, wo die Grenze zwischen Trauer und Wahnsinn lag und dass es manchmal keinen anderen Ausweg gab, als zu schreien.
Dann war ein Brief von Knud Erik gekommen, abgestempelt in Haiti. Ihre Hände hatten gezittert. Lange hatte sie mit dem Brief in der Hand dagestanden, bevor sie ihn öffnete. Sie dachte, es sei ein Brief aus dem Jenseits, den ihr der Teufel persönlich geschrieben habe, um sie für ihren Hochmut zu bestrafen, als sie glaubte, sie könne verhindern, dass das Meer ihren Sohn bekomme.
Aus dem Brief hatte Klara erfahren, dass Knud Erik von dem Untergang der København nichts wusste und daher auch nicht ahnte, was sie durchgemacht hatte. Er schrieb nur, um sich zu entschuldigen. Er hatte sie angelogen, als er ihr erzählte, er hätte auf der København angemustert. In den letzten Monaten war er auf der Claudia gefahren. Er schloss mit der üblichen Phrase, die sie immer wieder wütend machte, weil sie wusste, wie viel dieser Satz ihr verheimlichte: «Mir geht es gut.»
Ihre Antwort erfolgte umgehend. Die Reue der durchwachten Nächte war verflogen. Sie verkaufte das Deck unter seinen Füßen. Als die Claudia St. Louis du Rhône anlief, hatte sie die Bark an Gustaf Eriksen aus Mariehamn auf den Ålandinseln abgestoßen. Die übrigen Barken folgten bald darauf.
Damit hatte sie so gut wie jegliche Seefahrt in Marstal zunichte gemacht. Und nun beschloss sie, auch ihren Sohn zu vernichten. Sie wollte ihrer ständige Sorge, ihn zu verlieren, ein Ende bereiten.
Einige schreckliche Monate lang hatte sie ihn für tot gehalten und sich selbst angeklagt. Nun hatte sich das Ganze als eine einzige Lüge herausgestellt.
Knud Erik kehrte nach Marstal zurück, um an der
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