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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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gab nur ihre Blicke, die sich suchten, und in ihrem starren Gesichtsausdruck, der die ganze Unnahbarkeit des Soldaten ausdrückte, fand er keinerlei Zeichen, dass es sich um etwas anderes handelte als um eine Kraftprobe. Sie konnte nur so enden, dass schließlich einer von ihnen vor dem anderen auf die Knie fiel, um seine Kapitulation zu signalisieren.
    Ein plötzliches Entsetzen erfasste ihn bei dem Gedanken, dass sie noch einmal einen der deutschen Gefangenen, die im Hafen arbeiteten, niederschießen und es seinetwegen tun würde. So als wäre der tote Körper ein weiteres Glied ihrer heimlichen Verbindung, die mit jedem Tag, der verging, größer und stärker wurde. Zu seiner Erleichterung geschah nichts.
    Die Löscharbeiten kamen nur langsam voran, und es war anzunehmen, dass noch Monate vergehen würden, bevor sie wieder in See stechen konnten. Die meisten Besatzungsmitglieder hatten jetzt eine Freundin. Alle Frauen erschienen inzwischen mit roten Lippen, einige hatten sich auch die Augen schwarz angemalt, und in den Tanzpausen wurde ganz offen Händchen gehalten.
    Es vergingen weitere sieben Tage, bis sie im Klub auftauchte.
    Knud Erik war enttäuscht, als er sie entdeckte. Es war der Blick, der wie gewöhnlich eine kitzelnde Unruhe in seinem Nacken hervorrief. Sonst hätte er sie wohl nicht wiedererkannt. Das kräftige aschblonde Haar war zu einem Seitenscheitel gekämmt und fiel ihr mit einer dicken Locke in die Stirn. Wie die anderen hatte sie sich die Lippen rot angemalt und schaute ihn unverwandt an. Sie saß ganz allein am Tisch, die anderen schienen Abstand zu ihr zu halten. Sofort erhob er sich und ging zu ihr, um sie zum Tanz aufzufordern. Die anderen – Männer wie Frauen – starrten ihn an. Es war das erste Mal, dass der Kapitän der Nimbus die Tanzfläche betrat.
    Sie trug ein weißes, frisch gebügeltes Hemd. Ihre Haut wirkte blass, Augen und Haare waren beinahe farblos. Sie hatte Falten um den Mund, aber sie war nicht unattraktiv.
    Nicht ihr Aussehen enttäuschte ihn. Aber sie hatte die Uniform ausgezogen und die Maschinenpistole abgelegt. Sie war eine Frau wie jede andere – nicht länger sein Todesengel, und plötzlich verstand er, dass er
einem Irrtum unterlegen war. Sie hatte ihn angesehen wie eine Frau einen Mann ansieht. Nichts anderes war es gewesen. Nur hatte ihn diese ständige Vernichtung, die um ihn herum stattfand und an der er selbst teilhatte, so erschüttert, dass seine normalen Reaktionen verzögert waren. Alles, was er suchte, war ein so intensives Vergessen, dass es sich von dem Wunsch, zugrunde zu gehen, nicht mehr unterscheiden ließ.
    Er legte den Arm um sie, und sie schmiegte sich an ihn. Sie war eine gute Tänzerin; sie blieben lange auf der Tanzfläche. Noch immer schaute sie ihn unverwandt an, und er sah die Sehnsucht in ihrem Blick. Sie suchte das, was er seinem eigenen Gefühl nach nicht mehr länger war: ein Mensch. Sie wollte seine Zärtlichkeit, seine Liebkosungen. Aber er hatte niemandem etwas zu bieten, außer den brutalen, drängenden Trieb, der nur nach seiner eigenen Befriedigung strebte.
    Wie konnte sie hoffen, sie, die einen wehrlosen Menschen vor seinen Augen erschossen hatte und ein Teil des Schreckens war, der ihn umgab? Wie konnte sie Zärtlichkeit, Zuneigung, Sehnsüchte in sich haben, Liebe? Sah sie etwas in ihm, das er selbst nicht sehen konnte? Glaubte sie, in ihm Frieden zu finden, glaubte sie, dass eine Nacht ihr das zurückgeben könne, was sie für immer verloren hatte, als sie einen anderen Menschen tötete?
    Woher kam dieser Optimismus?
    Oder war sie einfach schon so abgestumpft, dass sie in zwei verschiedenen Welten gleichzeitig leben konnte, in der Welt des Tötens und der Liebe? Er konnte es nicht. Er wusste es mit Bestimmtheit, aber als sie sich an ihn presste, reagierte sein Körper, als wäre ein Teil von ihm im Besitz einer Hoffnung, die er selbst verloren geglaubt hatte.
    Einige Stunden später verließen sie zusammen den Klub. Sie hatten kein Wort miteinander gewechselt. Knud Erik hatte sich nicht wie die anderen an Bord der Mühe unterzogen, die paar Worte zu lernen, die eine Situation auflockern konnten. Ja, nein, guten Tag, gute Nacht, auf Wiedersehen, du hübsch, wir Liebe machen, ich niemals vergessen. Sie hatte versucht, etwas zu sagen, doch er hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt.
    Draußen war es noch immer hell, dieses glimmende, sterbende und dennoch kräftige Licht, das die Sommernächte nördlich des Polarkreises erfüllt.

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