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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wurde Molotovsk aus der Luft angegriffen. Die deutschen Junkers hatten es auf die Hafenanlagen abgesehen. Die Mitternachtssonne glühte am Horizont, als der Fliegeralarm begann. Die Nimbus war das einzige Schiff im Hafen und als Ziel wie geschaffen. Halb betrunken sprangen sie aufs Kai und rannten ziellos umher. In der Umgebung gab es keinen Luftschutzraum, und die ersten Bomben fielen bereits. Die Luftabwehrbatterien rund um den Hafen schossen wütend zurück. Auch sie waren mit Frauen besetzt.
    In der Nähe entdeckten sie einige große Zementrohre, die ihnen Schutz vor den Bomben bieten konnten. Die Rohre waren hoch genug, um aufrecht darin zu stehen. Eines der bereits zerbombten Lagerhäuser erhielt einen weiteren Treffen. Etwas weiter entfernt explodierte ein Lastwagen. Dröhnende Schläge auf dem Zementrohr ließen sie zusammenzucken. Es waren die großkalibrigen Geschosshülsen der Luftabwehrbatterien, die, ohne ihr Ziel getroffen zu haben, wie ein schwerer Regen aus Metall herabfielen. Dann hörten sie das kreischende Geräusch einer Junkers, die ins Trudeln geriet, gefolgt von einem dumpfen Knall. Es konnte eine Bombe, es konnte aber auch eine Maschine gewesen sein, die abgeschossen am Boden aufschlug.
    Die Luftabwehrbatterien schossen weiter. Im Licht des brennenden Lastwagens sahen sie einen geöffneten Fallschirm über dem Boden schweben; der Pilot hing schlapp in den Seilen. Er erreichte den Boden, und der Fallschirm schlug über ihm zusammen. Er kam nicht wieder zum Vorschein, unter dem dünnen Stoff bewegte sich nichts.
    Als kurz darauf Entwarnung gegeben wurde, lag die Nimbus noch immer dort, wo sie sie hinterlassen hatten. Das Schiff sah nicht aus, als hätte es einen Treffer abbekommen, aber die Bombenkrater auf dem Vorplatz des Kais bewiesen, dass nicht viel gefehlt hatte.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging Knud Erik zu dem Fallschirm. Anton kam mit. Er packte den Stoff und zog daran, bis das Gesicht des Piloten auftauchte. Die blauen Augen waren aufgerissen, und sein Mund stand offen, als hätte ihn sein eigener Tod überrascht. Er lag in einer dunkelroten Lache aus Eingeweiden. Der Unterkörper und die Beine hatten sich in einem grotesken Winkel zum Rest des Körpers verdreht;
sie sahen, dass es ihn in der Mitte beinahe zerrissen hätte. Das konnte keine Wunde sein, die ihm zugefügt worden war, als die Maschine getroffen wurde. Er hätte das Cockpit niemals so verlassen können. Die Frauen an den Luftabwehrgeschützen hatten gezielt auf ihn geschossen, als er am Fallschirm zur Erde schwebte; die schweren Geschosse, die zum Abschuss eines Flugzeugs gedacht waren, hatten seinen Körper zerfetzt. Dunkle Blutflecken bildeten sich auf der Fallschirmseide. Er war gelandet, als das Blut sich wie ein Platzregen aus seinen heraushängenden Eingeweiden ergoss.
    Sie blieben bei diesem Anblick wie erstarrt stehen.
    «Es nützt nichts, Skipper», sagte Anton schließlich.
    Knud Erik sah auf. Anton hatte ihn noch nie «Skipper» genannt. Dennoch hatte er das erste Mal seit Monaten das Gefühl, dass ein Mensch sich an ihn wandte.
    «Was meinst du?»
    «Ich weiß, woran du denkst. Es nützt nichts, dass du versuchst, irgendeinen Sinn darin zu finden, was du in diesem Krieg erlebst. Es nützt auch nichts, dass du dich selbst anklagst. Das Einzige, was hilft, ist vergessen. Vergiss, was du selbst getan hast, vergiss, was andere getan haben. Wenn du leben willst, dann vergiss.»
    «Das kann ich nicht.»
    «Du musst aber. Uns allen geht es doch genauso. Aber es hilft nichts, darüber zu reden. Das macht es nur schlimmer. Eines Tages ist der Krieg vorbei, dann wirst du wieder zu dem, der du mal warst.»
    «Genau das glaube ich nicht.»
    «Wir müssen daran glauben», erwiderte Anton, «sonst wüsste ich nicht, was aus uns werden soll.»
    Er legte die Hand auf Knud Eriks Schulter und schüttelte ihn sanft.
    «Komm schon, Skipper. Es ist Zeit, zu Bett zu gehen.»
     
    Am nächsten Tag sah er sie wieder. Sie stand in ihrer Uniform am Kai, die Maschinenpistole hing am Schulterriemen. Wieder spürte Knud Erik ihren Blick auf sich ruhen, bevor er aufschaute und sie erkannte. Es gab eine heimliche Verbindung zwischen ihnen, eine Art gemeinsamer Empfindsamkeit für die Nähe des anderen, die sie beide mit einem Band verknüpfte, über dessen Natur er sich nicht im Klaren war. Ihrem Blick folgte
nie ein Lächeln oder ein Nicken, nichts, was ihre eigentliche Absicht verriet. Knud Erik hielt sich ebenfalls zurück. Es

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