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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Das Einzige, was Knud Erik von ihr wusste, war ihr Name, obwohl er selbst darauf keinen
Wert legte. Sie hieß Irina. Er überlegte, ob es dem dänischen Irene entsprach. Er war nie einem Mädchen mit diesem Namen begegnet, hatte aber immer gedacht, dass der Name die Inkarnation von weiblicher Anmut und Zartheit sei. Nun begleitete er eine kaltblütige Mörderin, die diesen Namen trug.
    Sie gingen auf die schwarz verbrannten Baracken zu, die statt eines Dachs mit einer Plane abgedeckt waren. Er vermutete, dass es sich um eine Kaserne handelte, allerdings gab es keine Wachposten oder Absperrungen. Er hatte von der Geschichte eines Seemanns gehört, der von einem Mädchen in eine derartige Baracke geschmuggelt worden war. Sie hatten sich auf ein Bett in einem großen verdunkelten Schlafsaal gelegt, und gerade als er die Hose ausgezogen und sich bereit gemacht hatte, wurde das Licht eingeschaltet. Er lag da mit einer beachtlichen Erektion. Und um ihn herum stand eine Gruppe Frauen und starrte ihn an.
    Die Baracke erwies sich als leer. Sie blieben vor einem Verschlag stehen, dessen Tür mit einem Vorhängeschloss verriegelt war. Sie holte einen Schlüssel heraus und öffnete. Dann zog sie das Verdunklungsrollo herunter und zündete eine Petroleumlampe an. Es gab nichts anderes als ein Bett und einen Tisch. Auf dem Tisch sah er die Fotografie einer Frau, von der er vermutete, dass sie es war. Sie stand auf einer Lichtung zwischen Bäumen, zusammen mit einem Mann in Uniform und einem Mädchen, das ungefähr fünf Jahre alt war. Licht flimmerte über dem Waldboden, und der Mann und die Frau lächelten dem Fotografen zu. Beide hielten das Mädchen an der Hand. Der Soldat hatte die Mütze abgenommen und einen Arm um Irinas Schulter gelegt. Sie trug genau so ein weißes Hemd wie an diesem Abend.
    Wo befanden sie sich jetzt? Der Mann wahrscheinlich an der Front oder tot. Und wo das Mädchen war, wussten die Götter. In Molotovsk jedenfalls nicht. Vielleicht hatte man sie an einen sichereren Ort in diesem riesigen Land gebracht.
    Irina wandte ihr Gesicht ab, als sie bemerkte, dass er sich die Fotografie ansah; er vermutete deshalb, dass der Mann und das Kind tot waren. Sie legte sich aufs Bett und wartete auf ihn. Er kroch zu ihr und legte einen Arm um sie. Seine Hand suchte ihre Brust. Wie warm und weich sich ihre Haut anfühlte. Er wünschte sich nichts anderes als diese Weichheit und Wärme. Es war ein Bedürfnis, mehr als nur reines Begehren,
animalisch, aber ohne wild zu sein. Ein Stück lebendige, atmende Haut zu berühren, das war alles, was er wollte, auch wenn diese Wärme von einer Frau kam, die gewohnt war, Leben zu nehmen, und es ohne mit der Wimper zu zucken tat.
    Was war ihr durch den Kopf gegangen, als sie ihn ansah, nachdem sie ihre Maschinenpistole abgefeuert hatte? Hatte sie Vergebung gesucht, Verständnis? Hatte sie sich selbst oder vielleicht auch ihn gefragt, ob er sie noch immer als Mensch betrachten konnte?
    Er spürte die Wärme ihrer Haut unter seiner Handfläche, diese unendliche, schmiegsame, umfassende Weichheit, und er legte seine Wange an ihre nackte Brust wie ein Schiffbrüchiger, der seinen Kopf auf den Strand bettet und die rettende Erde umarmt, nachdem er sich aus dem eiskalten Wasser befreit hat. Er wünschte, immer so liegen bleiben zu können und sich nie wieder bewegen zu müssen. Er wollte nur noch auf einem Kontinent nackter, warmer Frauenhaut sein, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte.
    In diesem Moment fing sie an zu weinen. Sie presste ihn an sich, ihre Hände fuhren ihm durchs Haar; inbrünstig wiederholte sie unablässig seinen Namen. Sie war eine Ertrinkende, genau wie er. Alles in ihm verkrampfte sich. Zwei Ertrinkende können sich nicht retten. Sie können sich nur gegenseitig hinabziehen.
    Er kämpfte sich aus ihrer Umarmung frei. Er konnte nicht. Er war doch die ganze Zeit allein gewesen, auch als er mit seiner Wange an ihrer nackten Brust lag. Er war dazu verurteilt, allein zu sein. Er hatte einen Todesengel gesucht und einen Menschen gefunden, und dieser Situation war er nicht gewachsen.
    Abrupt stieg er aus dem Bett und lief durch die leere Baracke, in der seine Schritte hallten, als ob all die Soldaten, die irgendwann einmal in diesem Gebäude gelebt hatten und nun tot waren, für einen Moment zurückgekommen wären.

    Knud Erik wurde kurz nach Mittag abgeholt. So empfand er es jedes Mal, wenn er zu einer Besprechung mit den

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