Wir Ertrunkenen
hatte nach der langen Pause die alte Empfindlichkeit wiedererlangt.
«Lieg still», befahl Isager in dem gleichen ruhigen Ton wie zuvor.
Er packte Alberts Hosenbund und fuhr in seinem Redestrom fort.
«Doch was ist die Strafe des Gewissens? Es ist die innere Unzufriedenheit, die ihr empfindet, wenn ihr eine Untat begangen habt. Plagt euch euer Gewissen jetzt? Spürt ihr die Strafe?»
Er hörte auf, Albert zu schlagen, und sah sich in der Schulstube um.
Wieder nickten wir.
«Ihr lügt», sagte er, ohne die Stimme zu heben.
Er ging weiter zu seinem nächsten Opfer. Es war Hans Jørgen, und wir glaubten, dass es nun zu dem üblichen Zusammenstoß kommen würde. Doch auch Hans Jørgen kniete nieder, um seine Strafe zu empfangen.
Ohne seinen unerwarteten Triumph zu bemerken, setzte Isager seine Belehrungen fort, während er auf den knienden Hans Jørgen einschlug.
«Ihr kennt die Reue nicht. Und wisst ihr, warum? Weil ihr keine Bestimmung habt. Ihr wisst vielleicht nicht, was eine Bestimmung ist? Es ist Gottes Absicht mit euch. Aber Gott hat keine Absichten mit euch. Ihr habt keinen Verstand, und ihr habt kein Gewissen. Ihr kennt den Unterschied zwischen richtig und falsch nicht.»
Er richtete sich auf und ging weiter durch das Klassenzimmer. Jetzt war Niels Peter an der Reihe. Doch statt auf ihn einzuprügeln, hielt Isager
einen Augenblick vor dem gekrümmten Rücken am Boden inne. Er hob den Tampen.
«Seht genau her», sagte er, «das ist euer Gewissen, das Einzige, das ihr jemals bekommen werdet. Nur der Tampen kann euch den Unterschied zwischen Gut und Böse beibringen.»
Dann beugte er sich über Niels Peter.
Als die Schule aus war, liefen wir über die schneebedeckten Felder außerhalb der Stadt. Niemand von uns sagte etwas. Wir suchten nach ein paar Bauernjungen, mit denen wir uns prügeln konnten.
Ab und zu blickten wir verstohlen auf Hans Jørgen. Waren wir von ihm enttäuscht? Alle hatten wir den Rücken vor Isager krumm gemacht. Von ihm hatten wir es jedoch nicht erwartet.
Es war ein trüber Tag, und der Schnee funkelte nicht auf den Flächen mit den bläulichen Schatten, die sich immer zeigten, wenn die Sonne schien. Alles war grau in grau und ebenso nah oder ebenso weit entfernt. Nur die nackten Pappeln vermittelten ein Gefühl von Abstand. Von Menschen keine Spur.
«Hier ist ja niemand», sagte Niels Peter gereizt.
Wieder schauten wir verstohlen auf Hans Jørgen. Er lief ein Stückchen voraus und starrte die ganze Zeit vor sich hin. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich zu uns um.
«Glaubt bloß nicht, dass ich vor Isager Angst hatte», sagte er. «Habe ich nämlich nicht.»
Er klang wütend. Wir schwiegen und blickten in den Schnee. Aus dem bedeckten Himmel fiel eine Schneeflocke, dann noch eine. Wir erwarteten, dass er noch mehr sagen würde, aber es kam nichts mehr.
«Und wieso hast du dich schlagen lassen?»
Niels Peter fragte, ohne aufzusehen. Es klang fast, als ob er mit sich selbst redete.
Hans Jørgen zögerte. Er breitete die Arme aus, als würde er eine Erklärung von vornherein für sinnlos halten.
«Ist doch jetzt sowieso egal», entgegnete er.
Albert hob den Blick und blinzelte in die Schneeflocken, die nun dichter fielen.
«Versteh ich nicht», sagte er.
Hans Jørgen zögerte erneut.
«Wir haben ihn nicht erledigt. Und nun ist er zurück und schlimmer denn je zuvor. Das Ganze ist …»
Wieder breitete er die Arme aus, «… so hoffnungslos.»
«Aber er hat doch geblutet», sagte Albert, der es selbst nicht gesehen hatte, dem Isagers Blutstropfen aber detailliert beschrieben worden waren, als hätte es sich um ein ganzes Gemälde gehandelt.
«Ja», sagte Niels Peter, «er hat geblutet.»
«Na und?»
Hans Jørgen drehte sich um.
Er begann zurück zur Stadt zu gehen Die Schneeflocken fielen jetzt immer dichter. Wir folgten ihm. Zum ersten Mal hatten wir das Gefühl, mit Hans Jørgen nicht einer Meinung zu sein. Stets hatte er uns angeführt. Nun mussten wir uns selbst anführen.
Wir hatten Isagers Hund getötet, doch Isager hatten wir nicht erledigt. Er hatte unsere Väter verprügelt, und er würde auch uns weiterhin prügeln. Wir zählten es an unseren Fingern ab. Sechs Jahre gingen wir zur Schule. Also hatte Albert noch fünfeinhalb Jahre vor sich, Hans Jørgen ein halbes Jahr, und der Rest von uns lag dazwischen. Wenn Isager sechs Jahre unseres Lebens bekam, wie viele Jahre würde es wohl dauern, bis wir ihn vergessen hatten? Es klang wie eine
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