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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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sich an Bord rührte. Sie mussten sich ducken, sich klein und unsichtbar machen, um seiner grundlosen Wut zu entgehen. Doch selbst das half ihnen nicht. Denn er hatte den Blick des Falken für die Maus, die sich im Korn versteckt.
    Sie verfügten über kein Versteck. Was ist ein Versteck auch für denjenigen, der sich vor einer Übermacht fürchtet? Der alles richtig machen, dem kleinsten Wink gehorchen will?
    «Was hatte Giovanni falsch gemacht, der beste Koch, der je auf einem Schiff gefahren ist, der beste Gaukler, der sein Talent an eine versoffene und abgestumpfte Mannschaft verschleuderte und sie damit alle besser machte, als es unser Herrgott je beabsichtigt hatte? Was hatte er getan, dass er eine zerschmetterte Hand verdiente? Für welches Vergehen war dies die Strafe?», fragte Albert.
     
    Ein Junge mit dem Namen Isaiah musste die Kombüse übernehmen. Er kam aus Amerika und war vierzehn Jahre alt. Seine schwarze Haut hatte
einen schimmernden Glanz, als wäre sie ständig feucht. Wenn er frühmorgens anfeuerte, spiegelte sich die Glut des Ofens auf seinen dunklen Wangen. Er tat sein Bestes. Aber jeden Tag frisch gebackenes Brot gab es nun nicht mehr, und auch keine pies oder Kuchen.
    Giovanni, der einige Tage teilnahmslos im Mannschaftslogis gesessen und im Halbdunkel unablässig seinen weißen Verband angestarrt hatte, ließ sich dennoch nicht unterkriegen. Er erschien wieder an Deck. Er ging wieder in die Kombüse und fing an, Isaiah herumzukommandieren. Erst gab er ihm Anweisungen, dann kam die linke Hand zum Einsatz. Schließlich war er Artist. Die linke Hand war ebenso geschickt wie die rechte. Er war nur noch ein halber Mann, doch selbst als halber Mann gelang ihm mehr als den meisten ganzen Männern. Schon bald segelten die Teller wieder über die Tischplatte. Es steckte Trotz darin, ein gefährliches Spiel. Seine Augen leuchteten. Die Besatzung bewachte ihn, bereit ihn zu verteidigen, obgleich sie mehr Angst hatte als er.
    Aber der Falke findet immer eine Gelegenheit.
    O’Connor überfiel ihn, als er einen Augenblick allein mit Isaiah war. Die Männer kamen dazu, als sie seinen Schrei hörten. Es war zu spät, O’Connor hatte Giovannis linke Hand gepackt. Ihr sollte es ebenso ergehen wie der rechten. Da griff Giovanni zu einem Messer, doch seine Rechte mit ihrem armseligen Bündel gebrochener Finger war nicht zu gebrauchen, ihr fehlte die alte Kraft und Präzision. Er konnte das Messer kaum festhalten. Er wusste, dass es um sein Leben ging. Ein Kratzer war jedoch alles, was er auf O’Connors Brustkorb auszurichten vermochte.
    Dennoch, wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er das Messer auf diese Weise einsetzte? Als die Männer ihn im Mannschaftslogis aufforderten, Rache zu nehmen, und geschworen hatten, dass sie ihn decken, ja sogar die Schuld auf sich nehmen würden, hatte er geantwortet: «Ich bin Messerwerfer, kein Mörder.»
    Giovannis Vergeltung waren die Teller, die wieder über den Tisch flogen, und das wiedererwachte Vergnügen der Gaumen. Nun griff er zum Messer, und Isaiah sagte hinterher, dass er Tränen in seinen Augen gesehen hätte, als er mit dem Messer in seiner zertrümmerten Hand dastand. Es schien, als hätte Giovanni in dem Moment, als er ein Messer in die Hand nahm und begann, die plumpe Sprache seines Feindes zu sprechen, seine Ehre verloren.

    O’Connor lachte und bot ihm die Brust.
    «Komm schon», sagte er.
    Giovanni legte das Messer auf den Tisch.
    Als die Männer dazukamen, war es zu spät. Der tödliche Schlag war gefallen.
     
    Eingenäht in ein Segeltuch wurde Giovannis verstümmelter Leib noch am gleichen Tag über die Reling geworfen und verschwand im Meer. Kapitän Eagleton war nicht dabei. O’Connor war sein Stellvertreter. Die Männer hatten den Verdacht, dass er nur erschien, um seinen sinnlosen Triumph auszunutzen.
    Isaiah kam mit einer Schaufel voller Asche aus der Kombüse. Sie musste als Erdbestattung herhalten.
    «Von der Erde bist du gekommen, zur Erde wirst du werden», sagte der Küchenjunge und schüttete die Asche über Giovannis Leiche, die in ein Stück Segeltuch genäht auf Deck lag.
    In diesem Moment fuhr ein Windstoß in die Asche, und als gäbe es eine rächende Hand, wurde die Asche in O’Connors verunstaltetes Gesicht geblasen, in dessen unzähligen Furchen und Rissen sich der schwarze Ruß festsetzte. Seine Augen brannten und schmerzten. Er brüllte und schlug um sich, als hätte ihn ein realer Feind überfallen. Die Männer liefen

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