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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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seinem Thronsessel und ließ sich das Essen bringen. Das Wetter störte ihn nicht. Sein Körper war immun gegen alles. Seine Kleidung war stets dieselbe, nie zog er etwas anderes an. Er trug immer dasselbe zerlumpte Hemd, das notdürftig von einer Weste ohne Knöpfe und ausgerissenen Knopflöchern bedeckt war. Nur Schneestürme und Hagelböen vertrieben ihn aus dem Stuhl. Der Jungmann wusste zu berichten, dass er auch in seiner Kajüte, in der es stank wie in der Höhle eines Raubtiers, in einem festgebolzten Sessel schlief. Der Hund lag auf den Planken zu seinen Füßen. Er war immer auf der Hut. Die Männer erzählten sich über ihn, dass seine Muskeln sogar im Schlaf angespannt seien.
    Als Giovanni ihm am folgenden Tag das Essen brachte, stellte O’Connor den Teller auf das Deck und nicht wie gewöhnlich in seinen Schoß. Dann gab er dem Hund ein Zeichen, der sich sofort über die sorgfältig
zubereitete Mahlzeit hermachte. Währenddessen wandte O’Connor seinen Blick nicht von Giovanni ab. Giovanni blickte stur zurück. Er hatte vor O’Connor genauso wenig Angst wie vor seinem Hund.
    Den Hund konnte er mit einer Handbewegung beherrschen. Doch O’Connor befand sich außerhalb seiner Kontrolle, und mit ihm hatte er sich einen Todfeind geschaffen.
    Am nächsten Tag brachte Giovanni O’Connor das Essen in einem Futternapf. Er stellte sie zu Füßen des Steuermannes auf Deck.
    «Guten Appetit», sagte er, drehte sich um und wollte gehen.
    «Wo ist mein Essen?»
    O’Connors Stimme klang tief und bedrohlich.
    «Dort.»
    Giovanni wies auf den Futternapf.
    «Beeil dich besser, bevor der Hund es frisst.»
    In diesem Augenblick besiegelte er sein Schicksal.
     
    Giovanni war sehr viel mehr als nur ein Koch. Wenn ein Schiff vor New York auf Reede lag, kommen nicht nur Schneider, Schuster, Schlachter, Schiffshändler und Obstverkäufer an Bord, also all diese nützlichen Männer, ohne die kein Schiff auskommt, bevor es in See sticht, sondern auch Hehler, die falsche Goldringe und Taschenuhren feilbieten, die beim ersten Stoß stehen bleiben, Tätowierer mit unsauberen Nadeln, bei denen jede Tätowierung zu nässenden Entzündungen führt, Bettler und Zauberkünstler, Jongleure, Fakire und Wahrsagerinnen, Kuppler, Luden und Diebe. Giovanni sah fast so aus, als gehörte er eher zu letzterer Gruppe als auf die Emma C. Leithfield. Er hatte sich ein rotes Halstuch um sein rabenschwarzes Haar gebunden und jonglierte auf Deck mit vier Eiern, die zwischen seinen Händen herumflogen, ohne dass er auch nur ein einziges fallen ließ. Das war sein Entree.
    Er war im Zirkus aufgetreten, aber warum er schließlich zur See ging, wusste niemand. Er war Messerwerfer und Jongleur, und es kam vor, dass wir eine Freiwache ausfallen ließen, nur um in der Tür zur Kombüse zu stehen und ihm bei der Arbeit zuzusehen. Er konnte mit drei, vier scharf geschliffenen Messern auf einmal jonglieren. Sie bildeten vor ihm ein drehendes Rad. Er verlor nicht eines, griff nicht daneben und schnitt sich nie.

    Wenn es an Deck hieß: «Jetzt deckt Giovanni den Tisch», stürzten die Männer in die Messe, um in der ersten Reihe zu stehen.
    Er stellte sich ans Ende des Tisches und deckte auf, ohne sich vom Fleck zu rühren. Die Blechteller flogen durch die Luft, ebenso die Messer und Gabeln, und sie landeten dort, wo sie hingehörten, nebeneinander. Den Zuschauern wurde schwindlig, sie waren begeistert. Niemals zerbrach er etwas. Niemand begriff es.
    «Wie machst du das, Giovanni?»
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. Es gab keine Geheimnisse.
    «Es sitzt alles hier.»
    Er bewegte die Handgelenke hin und her.
    Die Männer blinzelten sich zu. Sie waren stolz auf ihren Koch. Der Whisky war über Bord gegangen. Sie waren auf See. Die Männer fügten sich und verrichteten ihre tägliche Arbeit. Doch es war Giovanni, der sie zu einer Besatzung machte.
     
    Seit New York waren sie vierzehn Tage auf See. Die Emma C. Leithfield hatte den Äquator mit Kurs auf Buenos Aires überquert, und die Männer bewunderten wie gewöhnlich Giovanni, als O’Connor plötzlich auftauchte. Giovanni war gerade dabei, den Tisch zu decken. Die Teller navigierten auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort zielgenau durch die Luft, als O’Connor eine Riesenfaust ausstreckte und ein Teller vom Kurs abkam und auf dem Boden landete. Er ging nicht kaputt, das ist so bei Blechtellern, dennoch war der Effekt von O’Connors Sabotageakt größer, als wenn der Teller in tausend Scherben zersprungen

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