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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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wäre.
    Giovannis Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. Wenn er seine Kunststücke vorführte, war er gleichermaßen konzentriert wie entrückt. Nun wachte er schlagartig auf. Das Selbstvergessene seiner Miene wurde von einer Obacht abgelöst, die die Männer vorher nie gesehen hatten. Als O’Connors Faust auf ihn zuschoss, bewegte er sich mit der gleichen Virtuosität, mit der er mit seinen Messern und Tellern jonglierte. O’Connors Faust, die sein schmales, fein geschnittenes Gesicht zu einer blutigen Masse verwandelt hätte, traf stattdessen mit einem hässlichen, knirschenden Geräusch das Schott. Seine Knöchel waren blutig, als er das Gleichgewicht wiederfand.
    Giovanni stand mit konzentriertem Gesichtsausdruck an derselben
Stelle wie zuvor. In seiner Miene war keine Feindseligkeit, keine Angst, weder Zorn noch Panik. Er war ein Zirkusartist, der sich hoch oben unter der Kuppel auf einen schwierigen Sprung ohne Sicherheitsnetz vorbereitete, und als O’Connor noch einmal unbeherrscht zuschlug, duckte Giovanni sich mit der gleichen Präzision wie zuvor weg.
    O’Connor taumelte nach vorn, offensichtlich hatte er sein Gleichgewicht verloren. Diejenigen aber, die in diesem Augenblick sein Gesicht sahen, ahnten, dass sich hier noch etwas anderes anbahnte. Seine hässliche Fratze war nicht von der Gewalt unbeherrschter Erregung verzerrt. Seine Augen waren schmale Schlitze inmitten der aufgequollenen, vernarbten Fleischmassen. Sie strahlten eine Kälte und Ruhe aus, die ankündigten, dass der taumelnde Fall nach vorn geplant war.
    Giovanni sprang zur Seite, um den fallenden Riesen nicht im Weg zu stehen. Doch statt den Fall mit den Händen abzufangen, streckte O’Connor seinen langen Arm aus, packte den kleinen Italiener und riss ihn mit sich auf die Planken. Die Männer erwarteten, dass O’Connor versuchen würde, sich auf Giovanni zu werfen, um ihn dann zu verprügeln, und schon drängten sie sich um die Kämpfenden, um ihn wegzuzerren. Stattdessen lagen die beiden einen Augenblick regungslos nebeneinander. Dann ertönte ein Schmerzensschrei von Giovanni. Er hielt sich das Handgelenk. Die Hand hing eigenartig schlaff herab. Mit einer raschen Drehung seiner starken Fäuste hatte O’Connor sie ihm gebrochen.
    O’Connor kam ruhig auf die Beine. Er stand neben seinem Opfer und sah in die Runde der Männer. Ohne hinunterzuschauen, behielt er sie im Auge, hob seinen Fuß und stampfte mit dem Stiefel fest auf die verletzte Hand. Die Männer hörten, wie die Finger brachen.
    Dann verließ er die Messe.
    Die Männer wichen ihm aus. Aber hätten sie eines von Giovannis scharfen Messern in den Händen gehabt, sie hätten es in seinem Rücken versenkt, tief genug, dass die Spitze sein verfaultes Herz kitzelte und das Höllenfeuer, das in ihm brannte, für immer ausgelöscht wurde.
    Die Mannschaft sammelte sich um Giovanni und half ihm auf die Beine. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er weinte nicht vor Schmerz, sondern über seine verlorene Fähigkeit. Sie saß in den gebrochenen Fingern, die sich in unnatürlichen Winkeln spreizten. Die Männer hatten genügend Unglücke an Bord gesehen, um zu wissen, dass er diese Hand
niemals wieder benutzen konnte. Noch vor einer Minute war er ein Künstler gewesen. Nun war er gerade noch ein Mann.
    Sie brachten ihn zu Kapitän Eagleton. Die Hand wurde verbunden, das würde helfen. Aber selbst ein Arzt hätte sie nicht retten können.
    Kapitän Eagleton sah weg, als ginge ihn das alles nichts an.
    «O’Connor», sagte er, «tut nichts ohne Grund.»
    Das war alles, was bei ihrer Beschwerde herauskam.
     
    Giovanni hatte sie zu einer Besatzung geformt. O’Connor wollte das Gegenteil – er wollte jedem Einzelnen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen; nicht weil er nicht die Kraft gehabt hätte, mehr als einen von ihnen zu verprügeln, sondern weil ihre Angst vor ihm am größten war, wenn es niemanden gab, mit dem man sie teilen konnte.
    Dass O’Connor nichts ohne Grund tat, wie der Kapitän behauptete, war die größte Lüge. Er tat alles ohne Grund. Er schlug, prügelte und brach Knochen nur aus einem Grund: Es bereitete ihm Vergnügen. Er bestrafte sie nicht für etwas, das sie getan hatten. Er spielte mit ihnen, wie ein Gott mit den Gläubigen spielen kann. Den Sinn für ihre Leiden mussten sie selbst herausfinden. Es war seine Unberechenbarkeit, die ihn zu einem Ungeheuer machte. Die dunkle Ursache dafür lag in ihm selbst, in seinem Hass auf alles, was

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