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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Entsetzen.
    Doch sie flohen nicht, denn sie hatten einen Plan. Sie blieben.
    Erschöpft vor Hunger und Durst, hatten sie in der stechenden Tropensonne Deck und Deckhaus mit Sand und Steinen zu schrubben. Sie wurden eine Stunde früher als die Besatzungen anderer Schiffe, die an
St. Jagos Reede vor Anker lagen, aus den Kojen gejagt, und erst lange nachdem die anderen zur Ruhe gekommen waren, bekam die Besatzung der Emma C. Leithfield die Erlaubnis, schlafen zu gehen.
    Im Schatten eines ausgespannten Segels thronte O’Connor in seinem Sessel, den geladenen Revolver in der Hand und den Riesenhund zu Füßen. Er saß dort nicht, um sie zur Arbeit anzuhalten. Wäre einer auf dem glühend heißen Deck aufgestanden und zum Fallreep gegangen, um an Land zu rudern, hätte er nicht einen Finger gerührt, um ihn zurückzuhalten, sondern in rücksichtslosem Triumph gegrinst und ihm eine glückliche Reise gewünscht.
    Washee-washee -Mädchen kamen in ihren Kanus und riefen den Männer Aufmunterndes zu. Sie hatten ihr Haar hochgesteckt, und ihre Schultern in den weiten Kleidern waren nackt.
    «Wir kommen jetzt an Bord!»
    Der Steuermann erhob sich und drohte ihnen mit dem Revolver.
    Es war eine Kraftprobe, bei der sie sich mit jedem Tag, der verging, weiter verbiegen mussten und die sie mehr und mehr zermürbte, schweigsam werden ließ und aushungerte. Doch die Summe dieser täglichen Erniedrigungen war ein Sieg. Sie bemerkten, wie sein Blick auszuweichen begann. Ein Ausdruck der Verwunderung breitete sich auf seinem malträtierten Gesicht aus und störte dessen schläfrige Gelassenheit.
     
    Nach der Ankunft in New York taten die Männer zwei Dinge. Zuerst musterten sie von dem Schiff ab, auf dem sie als Ausgleich zu Misshandlungen und täglichen Demütigungen nichts anderes erlebt hatten als den begrenzten Triumph ihrer Geduld und Ausdauer.
    Dann marschierten sie als komplette Gruppe auf das nächste Polizeirevier und zeigten den Steuermann der Emma C. Leithfield an.
     
    Das war der Plan. Das war Alberts Idee, die ihnen geholfen hatte durchzuhalten. Sie hatten darüber gesprochen, O’Connor umzubringen, aber irgendetwas, möglicherweise ihre eigene Furcht, hielt sie zurück.
    Albert hatte begriffen, dass es an Bord kein Gesetz gab, wenn der Kapitän nicht eingriff, sobald jemand sich auf einem Schiff so verhielt wie der Steuermann. Die Mannschaft konnte nicht das Gesetz sein. Sie hätten meutern können, aber eine Meuterei war ein Notschrei, nicht mehr.
Das Beste aber war, dass sie nicht selbst zu dieser Gesetzlosigkeit beigetragen hatten. Doch ein Gesetz musste es geben. Und wenn es nicht auf dem Schiff zu finden war, dann an Land.
    Daher marschierten sie als versammelte Mannschaft aufs Polizeirevier, nicht um Rache an dem Steuermann zu nehmen, sondern um des Gesetzes willen.
    Sie erschienen, um nachzufragen, ob es Gerechtigkeit gab.
    Und sie bekamen eine Antwort.
     
    Sie gingen die Lower East Side entlang, bis sie das Polizeirevier an der 12. Straße erreichten. Sie blieben dicht beieinander und nahmen den gesamten Bürgersteig in Anspruch. Die Passanten wichen ihnen aus. Sie waren groß gewachsene Männer, breitschultrig und Arbeit gewohnt, doch einen Moment lang schämten sie sich, dass sie mit dem Steuermann nicht selbst fertig geworden waren. Es hatte siebzehn gegen einen gestanden, und dennoch kamen sie hierher, um andere um Gerechtigkeit zu bitten.
    War das Gesetz nur die Entschuldigung der Schwachen?
    Dann standen sie vor einem hässlichen, schmutzig gelben Gebäude, auf dem ein Schild ankündigte, dass hier das Gesetz zu Hause sei. Als sie eintraten, wussten sie einen Augenblick nicht, auf welche Seite des Gesetzes sie gehörten. Der größte Teil der Verhafteten, die Uniformierte von der Straße hereinzerrten, sahen aus wie sie. Sie gingen auf eine der Theken zu und drückten sich dort unsicher herum. Albert musste schließlich das Wort führen. Er berichtete über den Mord an Giovanni, und der zweite Steuermann aus Schweden zeigte sein zerschlagenes Auge, mit dem er nie wieder sehen würde.
    Der Beamte nahm ein Protokoll auf. Eine Veränderung war zu beobachten, als sie ihre Worte auf Papier geschrieben sahen. Sie schauten sich an und richteten sich auf. Sie waren nicht mehr länger ein Haufen unzufriedener Männer, deren Beschwerden nichts anderes bewirkten als Hohnlachen und Schulterzucken.
    Dann begleiteten sie zwei Beamte zurück zum Schiff. Der Steuermann saß in seinem Sessel an Deck.
    Der Hund lag ihm zu

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