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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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auseinander, niemand wollte von seinen wild austeilenden Fäusten getroffen werden. Aus der Entfernung verfolgten sie, wie er seine letzte Blasphemie an dem Toten beging. Fluchend und schreiend hob er Giovannis schmächtigen Körper vom Deck und warf den entseelten Körper über die Bordwand, als wäre er ein Stück Abfall.
    Sie hatten am Begräbnis eines Meuterers teilgenommen. So wurde es ihnen von Kapitän Eagleton mitgeteilt.
    Doch im Mannschaftslogis planten sie O’Connors Tod.

    Alle meldeten sich. Niemand hatte Einwände, wenn es darum ging, O’Connor umzubringen. Nicht alle waren harte Hunde, als sie auf der Emma C. Leithfield anmusterten. Aber sie wurden es. Sie waren jeden
einzelnen Tag misshandelt worden. Es gab nicht einen unter ihnen, der nicht Spuren von den Fäusten des Steuermanns vorweisen konnte. Sogar die Offiziere schlug er. Der zweite Steuermann, ein Schwede namens Gustafsson, lief mit einem zugeschwollenen Auge herum, und niemand wusste, ob er sein Augenlicht behalten würde.
    Es gab keinerlei Recht und Gesetz auf der Emma C. Leithfield. Also mussten sie das Gesetz sein. Das war keine Meuterei, das war Gerechtigkeit.
    Ihre einzigen Bedenken waren technischer Natur. Wie?
    O’Connor war stark, stärker als irgendjemand von ihnen. Das hatten sie gelernt. In einem offenen Kampf konnten sie ihn nicht besiegen, doch der Gedanke an ihre eigene Schwäche steigerte nur ihre Wut.
    «Wenn er schläft», sagte ein Grieche, den sie nur unter dem Namen Dimitros kannten.
    Könnte das der Moment sein? Sie sahen sich an. Es gab zwei Einwände. Der eine war der geladene Revolver, den O’Connor ständig bei sich trug, der andere der Hund. Wenn der Steuermann in seinem Sessel an Deck schlief, lag er ihm immer zu Füßen. In dem Augenblick, in dem sich jemand näherte, hob er seinen großen schwarzen Kopf und knurrte wachsam. Niemand wusste, wie sie nah genug an O’Connor herankommen sollten, ohne den Hund zu wecken. Ihre Revolte begann zu bröckeln, da niemand an einen guten Ausgang glaubte.
    Sie sprachen lange über den Hund. Aber hatten sie wirklich vor ihm Angst? Oder war es der Revolver?
    Nein, es war O’Connor.
    Er brauchte weder seinen Hund noch seinen Revolver, um ihnen unbezwingbar zu erscheinen. Das, was in seinem vernarbten, kürbisähnlichen Kopf vorging, erschreckte sie. Doch das konnten sie nicht aussprechen. Das war ein unmögliches Geständnis, zumal sie siebzehn gegen einen waren.
    Sie saßen sich stumm gegenüber. Einige starrten auf den Tisch, andere auf einen Punkt am Schott.
    «Ist es nicht auch falsch, einen anderen Menschen zu töten?»
    Es war Albert, der die Stille unterbrochen hatte.
    Die anderen sahen auf und blickten ihn an, als hätte er gerade einen Gedanken formuliert, der ihnen nie zuvor gekommen war. Vielleicht
war es bei einigen auch tatsächlich der Fall. Niemand wusste sehr viel über die Vergangenheit der anderen. Aber niemand zweifelte daran, dass in einer Hafenstadt oder auf einem Schiff auf hoher See alles passieren konnte. Nicht jedes Mal, wenn ein Mann ertrank, war es ein Unglücksfall, und bestimmt gab es mehr als einen nichtverurteilten Mörder an Bord der Emma C. Leithfield.
    «Hätte Giovanni sich eine solche Rache gewünscht?», fuhr Albert fort.
    «Ist mir egal, was Giovanni sich gewünscht hätte», erwiderte ein walisischer Matrose, der auf den Namen Rhys Llewllyn hörte, und schaute auf seine vor sich gefalteten behaarten Hände.
    Er hatte einen blutunterlaufenen Striemen an einer Wange. Es war ein Gruß des Steuermanns, und er träumte davon, ihn zu erwidern.
    «Ich denke an mich.»
    Er sah vom Tisch auf und in die Runde.
    «Ich denke an uns. Es geht um ihn oder uns. Das ist keine Rache. Das ist Überleben.»
    Die anderen murmelten beifällig.
    «Giovanni hat das Messer gar nicht einsetzen wollen», warf Isaiah ein. «Ich habe gesehen, wie er es wieder weglegte.»
    Seine Stimme klang unsicher, und wir hörten, wie er zwischen den Worten Luft holte. Er war erst vierzehn, und es erforderte Mut, in einer Versammlung von Männern das Wort zu ergreifen, die in Rang und Alter alle über ihm standen.
    «Erinnert ihr euch, dass er sagte, er wäre Messerwerfer und kein Mörder. Sind wir Mörder?»
    «Halt’s Maul, du schwarzer Hund!», sagte der Waliser.
    «Nein, ich will nicht das Maul halten!»
    Die Worte kamen wie ein plötzlicher Ausbruch. Jetzt hatte Isaiah Mut geschöpft. Er hatte bereits gesprochen. Schlimmer konnte es nicht werden.
    «Ich werde von ihm

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