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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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genauso verprügelt wie ihr anderen. Ich habe auch das Recht zu sprechen. Aber ich glaube nicht, dass wir ihn totschlagen sollten.»
    «Der Junge hat recht», sagte Albert. «Wir sollten nicht so werden wie er. Er wartet nur darauf, dass wir ebenso verzweifelt sind wie Giovanni
und zum Messer greifen. Das ist ein Spiel, das er kennt. Das ist es, was er will. Glaubt ihr, er wäre dumm? Er sitzt bestimmt in diesem Moment da und hofft, dass wir planen, ihn umzubringen, denn dann hat er uns. Wollt ihr genauso werden wie er?»
    Sie murmelten und schauten wieder auf den Boden. Einige von ihnen wären zweifellos gern genauso geworden wie O’Connor. Aber sie waren es nicht, und so mussten sie einen anderen Weg finden, um der Stärkste zu werden.
    «Ich glaube, ich weiß, wie wir ihn besiegen können, aber das erfordert Geduld», sagte Albert und weihte sie dann in seinen Plan ein.
    Zunächst verstanden sie nicht, was er meinte.
    «Das funktioniert nicht», meinten sie, jeder Einzelne von ihnen, in nahezu ebenso vielen verschiedenen Sprachen. Egal, aus welchem Land sie kamen, sie hatten noch nie erlebt, dass der Gerechtigkeit auf diese Weise Genüge getan wurde. Es war nicht nur ein ungewohnter Gedankengang, es widersprach jeglicher Erfahrung.
    «Aber es ist Amerika», wiederholte Albert immer wieder.
    «Dies ist ein Schiff», sagten sie. «Und ein Schiff hat seine eigenen Gesetze.»
    Doch Albert ließ nicht locker. Er gab nicht auf. Jedes Mal, wenn er einen ihrer Einwände widerlegt hatte, sahen sie seine Überzeugung gestärkt. Wenn er mit seiner Rede am Ende war, schloss er jedes Mal mit derselben Frage.
    «Habt ihr vielleicht eine bessere Idee?»
    Es gab keine andere, als O’Connor umzubringen, und in ihren Herzen wuchs die Gewissheit, dass dieser Ausweg ausgeschlossen war. Sie hatten nicht den Mut dazu, weder allein noch als Gemeinschaft.
    War es das Gewissen, diese merkwürdige, undefinierbare Kraft, diese innere Unruhe mit ihren unbekannten Quellen, durch die sie sich schließlich umstimmen ließen und auf Alberts Vorschlag eingingen?
    Es war das Gewissen. Und es war Furcht, Schläue und Vorsicht. Es war sogar Gehorsam. Denn so verhalten sich Männer in der Gruppe. Es war all dies gleichzeitig, und es vermischte sich mit dem Gewissen, bis sich das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden ließ. «Also nennen wir es der Einfachheit halber Gewissen», sagte Albert, wenn er die Geschichte erzählte.

     
    Sie waren acht Monate unter O’Connor gesegelt, als sie St. Jago in Westindien anliefen, um Zucker für New York zu laden. Sie hätten unterwegs zahlreiche Gelegenheiten gehabt, sich abzusetzen, aber sie taten es nicht. Dann hätte ihr Plan niemals funktioniert, und all ihre Leiden wären vergebens gewesen. In St. Jago stand ihnen die wahre Kraftprobe bevor, und die hatte nichts mit der Kraft ihrer Arme und Hände zu tun. Diese Probe war längst entschieden, und ihre Entscheidung bestätigte sich täglich, wie ihre unzähligen Wunden bewiesen. Doch sie ertrugen es. Und sie schauten O’Connor mit einem immer kühner werdenden Blick an. Sie fanden in ihrer Beharrlichkeit eine Stärke, von der er nichts ahnte.
    Die Erfahreneren unter ihnen hatten bereits vermutet, dass Kapitän Eagleton versuchen würde, sie hier loszuwerden. Sie hatten so etwas auf anderen Schiffen erlebt. Wenn eine Reise sich dem Ende zuneigte, behandelten die schlechten Kapitäne die Mannschaft oft so übel, dass die Männer schließlich aufgaben. Immer hatten sie noch Heuer zu bekommen. Aber die verloren sie, wenn sie sich davonmachten – und das war dann der Profit einer Reise.
    O’Connor beschnitt ihre Wasserration. Sie schwitzten in der tropischen Hitze. Auch an der Verpflegung wurde gespart. Isaiah hatte in der Zeit, die vergangen war, seit Giovanni in seiner eigenen Kombüse ermordet wurde, ein wenig dazugelernt, doch selbst seine begrenzten Kenntnisse erwiesen sich nun als überflüssig. Drei kleine Schiffszwieback am Tag. Das war die ganze Ration. Sonnabends gab es Reis und ein Stück gesalzenes Fleisch. Ihr Gedärm schrie vor Hunger. O’Connors Hund lebte besser als sie.
    Es war ein teuflisch guter Plan. Acht Monate hatten sie mit einem brutalen und bösartigen Gefangenenwärter verbracht. Nun öffnete er ihnen die Zellentür, und sie weigerten sich hinauszugehen. Sie hatten eine Aufgabe, die noch nicht vollendet war. Geflohen wären sie allerdings schon gern, fort von seiner stets bedrohlichen Nähe, fort von ihrem eigenen

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