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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Füßen. Sie wussten, dass der geladene Revolver in seiner Hosentasche wartete. Aber das Gesetz konnte man nicht
erschießen. Erschoss man einen Beamten, erschienen zehn an seiner Stelle.
    Sie sahen O’Connors Verblüffung. Er starrte die Besatzungsmitglieder der Emma C. Leithfield einen nach dem anderen an. Sie senkten ihre Blicke nicht. Erst da begriff er wirklich. Sie hatten das Undenkbare getan. Sie hatten ihn nicht geschlagen. Sie waren nicht zum Gegenangriff übergegangen. Sie hatten nicht versucht, ihn zu ermorden. Das hätte er gebilligt. Das hätte er sich geradezu gewünscht. Das wäre eine Sprache gewesen, die er verstand. Die er selbst sprach. Nun hatten sie auf eine Weise gehandelt, die er nicht verstand, bei der das Recht des Stärkeren nicht galt.
    Er zögerte einen Moment, während sein Blick erst die Männer und dann die Beamten taxierte. Nichts in den Gesichtern der Polizisten verriet, was sie beim Anblick dieses Riesen mit dem grotesk vernarbten Gesicht, der zerlumpten Kleidung und der deutlichen Ausbeulung in der Nankinghose empfanden, die auf das Vorhandensein eines Revolvers hinwies. Doch die Männer sahen, wie sie erstarrten und ihre Hände nach den Griffen ihrer Revolver tasteten.
    O’Connor sah es auch und bewies dann eine Chuzpe, die die Männer ihm nicht zugetraut hatten. Er fragte die Beamten, was denn das Problem sei. Sie antworteten, es liege eine Anzeige wegen Mordes und gewalttätigen Überfalls vor, die Zeugen würden neben ihnen stehen. Dann erklärten sie ihm seine Rechte und teilten ihm mit, dass er verhaftet sei.
    O’Connor lieferte seinen Revolver freiwillig ab. Die Männer sahen, wie er sich bemühte, kleiner zu erscheinen, als er zwischen den beiden Polizisten abgeführt wurde. O’Connor!
    Sie sahen sich an.
    So stark war das Gesetz, dass es mit einem Fingerschnippen sogar das blutrünstigste Ungeheuer zu einem Lamm werden lassen konnte.
     
    Sie hatten nicht vermutet, dass O’Connor den Gebrauch der Sprache beherrschte. Jedenfalls hatte es nie einen Beleg dafür gegeben, dass er über einen größeren Wortschatz verfügte. Grunzen und Brüllen waren seine bevorzugten Ausdrucksformen. Nun enthüllte er eine ganz neue Seite. Sie hatten Verschlagenheit in seinem Blick aufblitzen sehen, als er verhaftet wurde und sich entschloss, freiwillig mitzugehen. Jetzt erlebten
die Männer tatsächlich, welch ein durchtriebener Teufel sich in den ungeheuren Fleischmassen verbarg.
    Als vor Gericht die Anklage gegen ihn verlesen wurde, griff er zur Bibel und küsste sie mit einer Inbrunst, von der sie eigentlich geglaubt hatten, sie sei seinen Wutanfällen vorbehalten. Er hob seine Hand und schwor, dass er in seinem ganzen Leben noch nie die Hand an irgendeinen Mann gelegt hätte. Dann fasste er sich mit seinen ungeheuren Pranken an den zerschnittenen Kopf und drehte ihn von einer Seite zur anderen, als wäre sein Hals eine Fassung, von der er den Kopf abschrauben wollte.
    «Seht auf dieses Gesicht», rief er aus, «sieht es aus wie das Gesicht eines Gewalttäters?»
    Er starrte direkt auf den Richter und sah über die Zuhörer hinweg.
    «Ist es so?»
    Hätte es nicht diese Androhung von Gewalt gegeben, die in jedem einzelnen seiner stets angespannten Muskeln lauerte, wäre bestimmt mehr als einer unter den Zuhörern in Lachen ausgebrochen. So grotesk war seine Forderung, ihn freizusprechen. Man konnte sich kaum ein Gesicht vorstellen, das mehr zu einem gewissenlosen Gewaltverbrecher passte.
    Doch sogar der Richter senkte den Blick, als O’Connor ihn durchdringend anschaute, und den Männern kamen Zweifel, wer denn nun der Stärkere war: das Gesetz oder O’Connor.
    Wieder drehte O’Connor seinen Kopf.
    «Seht», sagte er, «mein zerstörtes Gesicht. Es gehört einem Menschen, der nicht zurückschlägt, wenn er angegriffen wird. Es gehört einem Menschen, der sogar, wenn er ungerechterweise überfallen wird, auch noch die andere Wange hinhält.»
    Er sah direkt auf sie hinunter, und nicht einer von ihnen erwiderte seinen Blick. Er zeigte erst eine seiner vernarbten Wangen, dann die andere.
    «Glaubt ihr wirklich, ich würde jemanden so nahe an mich herankommen lassen, wenn mein Blut so böse wäre, wie behauptet wird?»
    Er riss sich mit einer dramatischen Bewegung sein zerlumptes Hemd auf, das er noch immer trug, und entblößte seinen von Narben überzogenen Brustkorb.
    «Dies …», sagte er, und seine Stimme klang hohl vor Feierlichkeit,
« … dies ist der Körper eines Märtyrers.

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