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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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Dies ist der Körper des Lammes.»
     
    «Er gewinnt», sagte Gustafsson und kratzte an seinem zerschlagenen Auge, als sie nach der Verhandlung auf der Bank des nächsten Wirtshauses saßen.
    «Habt ihr gesehen, welche Angst der Richter vor ihm hatte?»
    «Nun ja, aber das Gesetz hat keine Angst vor ihm», wandte Albert ein.
    «Was hilft das Gesetz, wenn der Richter klein und schwach und der Verbrecher groß und stark ist?», fragte Rhys Llewllyn.
    Albert stand allein mit seinem Glauben an das Gesetz. Sie erschienen Verhandlung um Verhandlung. Einer nach dem anderen wurde als Zeuge einberufen. Unverfroren widersprach O’Connor ihnen jedes Mal und sah dabei den Richter an, der seinen Blick senkte. Ihre Wunden und Schrammen heilten unterdessen. Ihre blauen und gelben Flecken verblassten. Nur das Auge des zweiten Steuermanns war auch weiterhin verloren, doch sogar mit dem blinden Auge wagte er es nicht, den Blick zu erwidern, wenn der Steuermann ihn anstarrte.
    Eine neue Heuer konnten sie sich erst suchen, wenn die Gerichtsverhandlungen überstanden waren. Sie wurden unruhig und verloren den Mut. Sie trieben sich in den Wirtshäusern herum und vertranken ihre Ersparnisse.
    «Wir hätten ihn nie anzeigen sollen», sagten sie zu Albert.
    «Das Gesetz ist stärker als O’Connor», entgegnete er.
    «Schau dir den Richter an», entgegneten sie.
    Die Männer glaubten nicht an das Gesetz. Albert hatte sie beschwatzt. Bald würde O’Connor wieder frei sein und Rache nehmen. Sie hätten die Niederlage ertragen und nicht das Gesetz um Hilfe anrufen sollen. Das Gesetz hielt doch sowieso immer zu den Stärksten.
    «Schaut euch den Richter an», wiederholten sie, «er ist klein und krumm. Er hat keine Haare auf dem Kopf. Er ist nicht viel größer als ein Kind.»
    «Ihr sollt ihn nicht anschauen», erwiderte Albert, «ihr sollt ihm zuhören.»

     
    «Na, was habt ihr gehört?», wollte Albert nach der nächsten Verhandlung wissen.
    Die Männer murmelten und stierten vor sich hin. Doch, es war richtig. Wenn man ihm zuhörte, machte der Richter einen anderen Eindruck. Er biss sich fest wie eine Bulldogge. Er ließ sich nicht abschütteln, sondern fragte sich weiter bis zum Kern der Sache durch, bis der Hüne die Geduld verlor, mit der Faust auf die Barriere vor sich hämmerte und durch den ganzen Gerichtssaal brüllte: «Ich bin ein Mann des Friedens! Das können alle bezeugen!»
    «Bloß die Besatzung der Emma C. Leithfield nicht», sagte der Richter und schlug den Blick wieder nieder. Seine Stimme indes war ruhig.
    «Es ist das Gesetz, das aus seinem Mund spricht», sagte Albert.
    «Ach was, er spricht doch selbst», sagte Rhys Llewellyn, «aber er spricht gut.»
     
    Nach sechzehn Tagen Verhandlung fiel das Urteil. O’Connor wurde zu fünf Jahren Gefängnis wegen Gewaltanwendung und Totschlags verurteilt. Dass der Vorfall in der Kombüse vorsätzlicher Mord gewesen war, konnte nicht bewiesen werden, obwohl niemand daran zweifelte. O’Connor sollte nicht an seinem Hals hängen, bis er tot war. Doch das hatten die Männer auch nicht erwartet. Sie hatten erwartet, dass er freigesprochen würde.
    O’Connor brüllte wie ein Tier, als das Urteil verkündet wurde.
    «Das hast du nun davon, du Untier!», rief der zweite Steuermann.
    Der Richter wandte sich ihm zu und warf ihm einen zornigen Blick zu, den ersten, den sie während der ganzen Verhandlungen gesehen hatten.
    Sie beglückwünschten sich, als sie den Gerichtssaal verließen, allerdings empfanden sie eher ein Gefühl der Erleichterung als einen Triumph über die Niederlage ihres Feindes. Als wären sie selbst freigesprochen worden.
    «Am Ende bin ich Isager losgeworden», sagte Albert viele Jahre später.
    «Über ihn wollen wir doch gar nichts hören», sagten wir. «Sondern über die Stiefel.»

DIE REISE
    I ch musterte nach Singapur an und von dort zum Van Diemens Land, bis Hobart Town, dem letzten Hafen, in dem mein Vater gesehen worden war. Es war nicht nur der letzte Hafen meines Vaters. Diese Stadt war die Endstation, und war sie es nicht sofort, so wurde sie es doch für jeden, der sich nicht rechtzeitig davonmachte. Wenn ihr euch das Armenhaus in Marstal vorstellt, dann habt ihr Hobart Town.
    Es war im Jahr 1862, und ich begegnete einem Mann mit nur einem Auge. Vierzig Jahre lang hatte er keinen einzigen Tag in Freiheit erlebt und jeden einzelnen Peitschenhieb gezählt, den er in seiner Gefangenschaft erhalten hatte. Insgesamt waren es dreitausend gewesen. Nun war

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